Blu-ray Review
OT: I, Tonya
Dreifacher Axel mit Bruchlandung
Brillant gespielter Mix aus Drama und Satire.
Inhalt
Tonya Harding gehört zu den Mädchen mit furchtbarer Kindheit. Ihr Talent fürs Eiskunstlaufen nutzt die herrische Mutter aus, um ihre Tochter praktisch permanent aufs Eis zu zwingen. Folgt Tonya nicht, setzt es mindestens eine Tracht Prügel mit der Haarbürste. Doch Tonya hat nicht nur eine brutale Mutter, sondern auch einen nichtsnutzigen Vater. Irgendwann schafft sie allerdings die Flucht aus dem Elternhaus – um vom Regen in die Traufe zu kommen. Denn der Mann, in dessen Arme sie rennt, ist nicht viel besser. Auch er prügelt und ist ein regelrechter Prolet. Das einzige, das sie da noch hat, ist das Eiskunstlaufen. Doch auch dort hat sie es nicht einfach. Immerhin können die Wertungsrichter nichts mit einer fluchenden Unterschicht-Göre anfangen, die in selbstgemachten Fummeln zu unmöglicher Musik auf dem Eis steht. Dennoch geht Tonya ihren Weg und arbeitet auf das große Ziel der Olympischen Winterspiele in Lillehammer hin. Dort könnte sie gute Chancen haben – wenn da nicht Nancy Kerrigan wäre. Die ebenso talentierte und aus gutem Hause stammende Eisprinzessin der USA …
Januar 1994. In den Vorbereitungen auf die Olympischen Winterspiele in Lillehammer wird während des Trainings zur US-Meisterschaft auf die Eiskunstläuferin Nancy Kerrigan ein feiger Anschlag ausgeübt. Hinter dem Angriff stecken der Bodyguard Shawn Eckardt und Jeff Gillooly. Letztere ist zu jener Zeit der Ehemann von Tonya Harding – der härtesten Konkurrentin von Kerrigan. Harding gewann dann in Abwesenheit von Kerrigan die Meisterschaft und rechnete sich große Chancen für die Winterspiele aus.
Was das Leben schrieb, hätte auf Film gebannt ein ziemlich düsteres Drama werden können. Doch Craig Gillespies (The Finest Hours) Ansatz ist ein anderer. Fließend sind die Grenzen zwischen Drama und Satire. Gillespies Film übertreibt die Unbarmherzigkeiten der Mutter, um den eigentlichen Schrecken damit zu überspielen. Das sorgt immer wieder für Momente, in denen man nicht weiß, ob man lachen oder schockiert sein soll über das, was man sieht. Stellt man sich vor, dass auch nur die Hälfte von dem zutrifft, was I, Tonya zeigt, will man sich diese Kindheit wahrlich nicht für sich selbst gewünscht haben.
Gillespie erzählt seinen Film aus unterschiedlichen Perspektiven, um darzustellen, wie sich jeder seine eigenen Wahrheit zurecht bastelt.
Er spielt ausgiebig mit Mockumentary-Interviews der Beteiligten (basierend auf den Erinnerungen von Autor Steven Rogers aus realen Interviews mit Harding und Gillooly) und lässt die Darsteller während der Spielszenen direkt in die Kamera sprechen. Auf diese Weise wird sogar die Gewalt zwischen Harding und Gillooly entkräftet. Das übertritt bisweilen die Grenze zum Zynismus. Wenn Harding sich zum Zuschauer wendet und vergleicht, dass man Kerrigan nur einmal im Leben geschlagen hätte und die ganze Welt Anteile nehmen würde, während sie selbst 20 Jahre lang misshandelt wurde und es niemanden interessiert hätte, ist Sarkasmus nicht mehr die richtige Vokabel.
Dem Zuschauer jedenfalls bleibt das Lachen hier (mal wieder) im Halse stecken. Und das auch, weil I, Tonya immer wieder mal ziemlich wahre Worte ausspricht. Denn obwohl der Film seine Hauptfigur ab und an der Lächerlichkeit preisgibt, schlägt er sich mitunter genauso auf ihre Seite. Harding war ein Underdog, jemand aus der armen Unterschicht, während um sie herum nur Mädchen aus gutem Hause liefen. Mädchen, die Geld für tolle Kostüme hatten und gute Umgangsformen. Mädchen, die von den Wertungsrichterinnen mit glänzenden Augen angesehen wurden. Wertungsrichterinnen, die gerade in den 80ern und 90ern nie objektiv urteilten, nie nur die Leistung sahen und erst Recht nichts anfangen konnten, mit einer rotzigen Harding. Sie wollten eine „gesunde amerikanische Familie“ sehen, ein sauberes Image – und keine White-Trash-Läuferin aus der Unterschicht.
Man muss Margot Robbie ein echtes Lob aussprechen. Ihre Darstellung der Tonya Harding ist schlichtweg sensationell. Und das gilt für die Szenen auf dem Eis genauso wie für die zwischenmenschlichen Momente. Robbie, die als Teenagerin ausgiebig und leidenschaftlich Eishockey spielte, drehte die Choreografien und Sprungansätze selbst. Die Sprünge wurden dann von einem Body Double geleistet (und der dreifache Axel am Computer erstellt, da für den kein Double gefunden werden konnte). Dass die Darstellerin nur knapp am Oscar für die beste weibliche Hauptrolle vorbeigerauscht ist, ist nachvollziehbar, wenn man sie hier fluchen, arbeiten, und Gewalt austeilen sieht. Gegen ihre Verkörperung der Tonya Harding werden alle Kerle zu absoluten Witzfiguren. Ganz nebenbei ist I, Tonya deshalb auch ein feministischer Film.
Natürlich einer, der es dem Zuschauer schwer macht, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Denn man weiß ja nun mal, worauf es hinausläuft. Und wer möchte sich schon auf die Seite einer Frau schlagen, die in einen feigen Anschlag auf die härteste Konkurrentin verwickelt ist?
Es ist das Verdienst von Gillespies Inszenierung, dass ein Film, von dem man nach dem Lesen der Inhaltsangabe noch denkt, wie man so eine Geschichte als Komödie/Satire umsetzen kann, eben doch auch Sympathien für die Titelfigur entwickelt.
Während Robbie die zugekniffene und überambitionierte Eisläuferin in Perfektion gibt, sorgt eine andere Darstellerin dafür, dass der Witz und der Satire-Ansatz so gut funktionieren. Die vollkommen zurecht mit dem Oscar für die beste Nebendarstellerin ausgezeichnete Allison Janney (Die Insel der besonderen Kinder) ist mit unfassbarem Brillengestell und Beatmungsschlauch in der Nase schon in den Fake-Interviews eine Bombe. Ihr ist es zu verdanken, dass das Tempo hoch bleibt und der Zuschauer lustvoll ein Feindbild aufbauen kann.
Ebenfalls zum Gelingen trägt die kongenial ausgesuchte Filmmusik mit Songs von den Dire Straits, Fleetwood Mac oder ZZ Top bei. Sie funktioniert gerade deshalb so gut, weil sie bisweilen oberflächlich unpassend wirkt, aber genau deshalb so eingesetzt wurde. So konterkariert ein schwungvolles „Spirit in the Sky“ beispielsweise die Szene, in der Tonya vom Vater verlassen wird.
Selbst wenn der Film am Ende seine Figuren etwas verlässt und er natürlich auch nicht die letztendliche Wahrheit ans Licht bringt, inwiefern Harding wirklich von dem Attentat wusste, gehört I, Tonya zu den echten Highlights des vergangenen Kinojahres.
Die eigentliche Ironie schrieb dann aber doch die Wahrheit: Denn bei den Olympischen Spielen 1994 gewann die gehandicapte Kerrigan Silber und Tonya Harding landete nach Schnürsenkelproblemen und flatternden Nerven unter ferner Liefen auf Platz acht. Und was lernen wir daraus? Verbrechen zahlt sich nicht aus.
Bild- und Tonqualität
Um möglichst authentisch rüber zu kommen und den entsprechenden Zeitgeist einzufangen, nutzte Gillespie selbst in den Filmszenen ausgiebig Filmkorn. Die Interviews wurden ohnehin analog aufgenommen, um den Mockumentary-Stil zu visualisieren. Es herrscht also durchweg Unruhe in den zwei Stunden Film. Dazu sind Farben „schön“ verwaschen und neutrale Oberflächen haben einen deutlichen Grünstich. In dunkleren Szenen mit Rotanteil überkontrastieren Gesichtern auch noch heftig. Die Schärfe geht allerdings in Ordnung. I, Tonya ist technisch gesehen keine Referenz, atmosphärisch gesehen aber ziemlich passend.
Nur selten hat man ein Drama/Komödie/Dramödie gesehen, deren Soundtrack so dynamisch und weiträumig ins Heimkino transportiert wurde. Schon der erste Song ist ein Muster an Präsenz und Griffigkeit. Zwar ist es fast ausschließlich am Score und den Musikstücken, für Räumlichkeit zu sorgen, weil ansonsten Dialoge dominieren. Doch immerhin gibt es auch noch ein bisschen Atmosphäre, wenn das Publikum in der Eishalle applaudiert.
Bonusmaterial
Im Bonusmaterial von I, Tonya gibt’s neben den Trailern auch noch ein knapp viertelstündiges Making-of, das viele Interview-Schnipsel liefert und einige Eindrücke von Hinter der Kamera liefert.
Fazit
I Tonya mag hin und wieder etwas übers Ziel hinausschießen, wenn’s um die Zurschaustellung seiner Figuren geht. Das Schauspiel und die bisweilen tiefschwarzen Humor-Einlagen lassen über einige Übertreibungen aber hinwegsehen. Mit viel Tempo und Witz spielt sich Gillespies Film locker in die Highlights der letzten Monate.
Timo Wolters
Bewertung
Bildqualität: 60%
Tonqualität (dt. Fassung): 80%
Tonqualität (Originalversion): 80%
Bonusmaterial: 30%
Film: 85%
Anbieter: Universum Film
Land/Jahr: USA 2017
Regie: Craig Gillespie
Darsteller: Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Caitlin Carver, Bobby Canavale
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, en
Bildformat: 2,35:1
Laufzeit: 120
Codec: AVC
FSK: 12
(Copyright der Cover und Szenenbilder liegt bei Anbieter Universum Film)