In meinem Kopf ein Universum

Blu-ray Review

In meinem Kopf ein Universum Blu-ray Review Cover
Ascot Elite, seit 08.09.2015

OT: Chce sie zyc

 


Stiller Beobachter

Der polnische In meinen Kopf ist ein Universum ist ein Pflichtfilm für alle aufgeschlossenen Cineasten.

Inhalt

„Geistig schwer behindert … er ist Gemüse“ – das Urteil, das die Kinderärzte über Mateus fällen, könnte heftiger nicht ausfallen. Der Junge leidet unter einer zerebralen Muskelstörung, die es ihm unmöglich macht, seinen Körper zu kontrollieren. Er kann nicht zufassen, alleine gehen oder aber sprechen. Von außen betrachtet machen die Menschen einen großen Bogen um ihn und selbst alternative Heilpädagogen wollen Mateus nicht helfen. Kein Wunder, denn es sind die 80er im kommunistischen Polen und von behinderten Menschen will hier niemand etwas wissen. Während die Ärzte also empfehlen, den Jungen in ein Pflegeheim zu geben, kümmern sich seine Eltern aufopfernd und voller Liebe um Mateusz. Sie glauben daran, dass ihr Sohn nicht geistig behindert ist, dass er mitbekommt, was um ihn herum passiert. Und in der Tat: Mateusz beobachtet seine Nachbarn, lernt Mathematik durch die Anzahl der Löffel, die er zu essen bekommt und liebt die Sterne, die sein Vater ihm Abends erklärt – einzig: er kann es niemandem vermitteln. Nach dem Tod des Vaters und dem Auszug der Geschwister wird es für seine Mutter immer beschwerlicher. Eines Tages resigniert sie und kann nicht mehr anders als ihn in eine Einrichtung zu geben. Mateusz gibt dennoch nicht auf, denn immer wieder gibt es Menschen in seinem Leben, für die es zu leben lohnt. So zum Beispiel seine Therapeutin Magda, die ihm nicht nur körperlich nahe kommt. Eine echte Wendung erfährt Mateusz Schicksal, als er mit Hilfe der Sprachtherapeutin Jola eine Kommunikation per Zeichen und Blinzeln herstellen kann. Nach all der Zeit wird klar, dass er seine Umwelt all die Jahre vollständig wahrgenommen hat …

In meinem Kopf ist ein Universum ist ein kleiner, nein sogar ein großer Glücksfall von Film. Der polnische Regisseur Maciej Pieprzyca erzählt in seinem auf wahren Begebenheiten beruhenden Werk ebenso bewegend wie humorvoll, ebenso beeindruckend wie wütendmachend vom Leben eines Menschen, dessen intakter Geist in einem dysfuntionalen Körper steckt. In zunächst etwas tristen und unaufgeregten Aufnahmen wandert sein Film 20 Jahre zurück, um dann dann die Geschichte von Beginn an zu erzählen. Dabei sehen Pieprzycas Bilder nur oberflächlich nüchtern aus, nutzen sie doch immer wieder Möglichkeiten, um dem Zuschauer die Perspektive des Protagonisten näherzubringen. Da kauert die Kamera schon mal unter einem Schrank, zeichnet im Vordergrund den staubigen Boden oder eine verlorene Brosche auf, die nur Mateusz sieht, wenn er auf dem Parkett herumrobbt. Dieser Lebensraum, der sich sonst nie in Filmen erschließt und von dem aus die Erwachsenen oft nur als ein paar Beine existieren, wird gerade zu Beginn zum Mittelpunkt des Geschehens und dabei unglaublich unverkrampft dargestellt. Gehört man zu den Menschen, die in der Regel Berührungsängste im Umgang mit Behinderten haben, so nimmt In meinem Kopf ein Universum diese für den Zeitraum von knapp zwei Stunden und lässt gar nicht zu, dass man mit Ressentiments zu kämpfen hat. Ein kleiner Geniestreich sind dabei die lakonischen Off-Kommentare Mateusz‘, die es dem Zuschauer viel leichter machen, Zugang zum wahrlich nicht einfachen Thema menschlicher Behinderung zu bekommen. Obendrauf gibt’s eine darstellerische Meisterleistung gleich zweier Schauspieler: Dawid Ogrodnik, der den erwachsenen Mateusz spielt, schauspielert tatsächlich, denn er ist nicht etwa wirklich spastisch eingeschränkt. Wenn man ihm zusieht, weiß man, dass er einen Method-Actor wie Daniel Day-Lewis (immerhin dreifacher Oscar-Gewinner und mit Mein linker Fuß ebenfalls schon in einer ähnlichen Rolle gesehen) glattweg an die Wand spielen würde. Ebenso herausragend ist Kamil Tkacz, der die jüngere Version der Hauptfigur gibt und für einen zum Drehzeitpunkt gerade mal 12-jährigen Jungen nahezu Unglaubliches vollbringt. Und dann ist da immer wieder dieser selbstironische und entwaffnende Humor, wenn Mateusz‘ Erzählstimme beispielsweise kommentiert, dass sein Bruder mit seiner neuen Freundin im Nebenzimmer schlimmere Geräusche macht als er selbst.

Dabei geht der Witz auch schon mal ungewohnte Wege, bleibt ehrlich und aufrichtig. So entgegnet Mateusz im Pflegeheim gedanklich einem dort ebenfalls untergebrachten Mitpatienten, der gerade „ich mag dich“ zu ihm gesagt hat, frank und frei „und ich dich nicht“. Auch hier ertappt man sich als Zuschauer gerne mal bei seinen eigenen Vorurteilen, wenn man bescheuerterweise für einen Moment davon ausgegangen ist, dass es keine Antipathien unter Gehandicapten gibt. Natürlich gibt es neben den vielen entwaffnend-witzigen Momenten aber eben auch solche, die entrüsten und wütend machen. So zum Beispiel nach einer knappen Stunde, wenn man Mateusz einer zahnärztlichen Behandlung unterzieht, damit er sich nicht mehr auf die Lippen beißt (was er im Übrigen nur deshalb tut, weil die Schwestern ihn im Liegen füttern). Intensiviert wird dieser Moment noch dadurch, dass Musik und Geräusche vollkommen verstummen. Und obwohl man während dieser Szene Wut empfindet und mitleidet, geht es In meinem Kopf ein Universum zu keiner Zeit darum, Mitleid mit den Gehandicapten zu erregen. Vielmehr wird man durch die wunderbar miteinander harmonierenden Zahnräder von Drehbuch, Regie, Schauspiel und Kameraführung für Mateusz‘ Sicht auf die Welt empfindsam gemacht. Dabei verschließt Pieprzyca nicht den Blick vor der Realität und zeigt, dass selbst die scheinbar herzensgute Magda nicht ganz uneigennützig mit Mateusz umgeht. Doch auch diese Etappe übersteht er und wenn er per Zeichensprache erstmals Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen kann, ist das gleichbedeutend der Höhepunkt des Films, an dem der aufgestaute Schmerz der letzten 26 Jahre auf beiden Seiten aufbricht und sich anschließend in wahres Glück verwandelt.

Bild- und Tonqualität

In meinem Kopf ein Universum liefert klare Bilder, die außerordentlich ruhig und rauschfrei daherkommen. Die Schärfe ist während der Close-ups sehr ausgewogen, lässt bei Halbtotalen allerdings nach. Der Kontrastumfang ist begrenzt, Farben wirken fahl – ein Tribut an die karge Ausstattung und die etwas trostlose Gegend, in der der Film spielt.
Akustisch bleibt In meinem Kopf ein Universum naturgemäß eher unspektakulär, was aufgrund der Dialoglastigkeit und der vielen ruhigen Szenen erkärbar ist. Dezente Umgebungs- und Naturgeräusche lenken davon etwas ab, auch der hauptsächlich aus Klavierstücken bestehende Filmscore öffnet hin und wieder den Raum.

Bonusmaterial

Mal abgesehen vom Trailer gibt’s im Bonusmaterial von In meinem Kopf ein Universum leider nichts zu finden.

Fazit

In meinem Kopf ein Universum gibt dem Zuschauer für knapp zwei Stunden den Glauben an das Gute und unbedingt Positive zurück. Der polnische Film vollbringt die unglaubliche Leistung, ein schwieriges Thema so unverkrampft rüberzubringen, dass man nach 105 Minuten als Zuschauer das Gefühl hat, Berührungsängste abgebaut zu haben. Dass die Darsteller dabei einen Löwenanteil und die Hauptverantwortung übernehmen, macht Pieprzycas Film auch zu einem höchst menschlichen Werk, dessen Bildern man am Ende kaum glaubt, wenn der „echte“ Mateusz neben seinem sich dann frei bewegenden Schauspieler steht.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 60%
Tonqualität (dt. Fassung): 55%
Tonqualität (Originalversion): 55%
Bonusmaterial: 5%
Film: 90%

Anbieter: MFA+/Ascot Elite
Land/Jahr: Polen 2013
Regie: Maciej Pieprzyca
Darsteller: Dawid Ogrodnik, Kamil Tkacz, Dorota Kolak, Katarzyna Zawadzka, Helena Sujecka, Arkadiusz Jakubik
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, en
Bildformat: 2,35:1
Laufzeit: 107
Codec: AVC
FSK: 6