Kind 44

Blu-ray Review

Kind 44 Blu-ray Review Cover
Concorde Home, seit 22.10.2015

OT: Kind 44

 


Ein Mörder, der nicht sein darf

Daniel Espinosa nimmt sich den Start der Romantrilogie von Tom Rob Smith zur Brust.

Inhalt

Leo Demidow ist Opfer der von Joseph Stalin 1933 initiierten Hungersnot in der Ukraine. Seine Eltern starben durch die unter dem Namen „Holodomor“ bekannt gewordene Vernichtung von Menschenleben, was ihn zur Waise machte. 12 Jahre später ist er als russischer Soldat an vorderster Front dabei, als er mit seinen Genossen den Reichstag stürmt und die Flagge auf dem Dach hisst. Nach dem Krieg wird er Mitglied im Ministerium für Staatssicherheit und sorgt dafür, dass Volksverräter gefunden und dingfest gemacht werden. Als der Sohn seines treuen Kampfgefährten Alexej tot aufgefunden wird – nackt und vergewaltigt, soll Leo für Mutter Russland lügen und seinem Freund mitteilen, dass man die Leiche bekleidet vorfand, vom Zug überfahren. Immerhin kann es „im Paradies keinen Mord geben“. Als Demidow Zweifel kommen, ordnet er eine vollständige Autopsie an. Dumm, dass genau in dem Moment ein überführter Staatsverräter Leos Frau Raisa der Kollaboration bezichtigt und Demidow sie selbst in Gewahrsam nehmen und ausliefern soll. Daran denkt er jedoch nicht und wird, da er sich vor sie stellt, mit Raisa gemeinsam in eine Industriestadt weit außerhalb deportiert und zur Miliz degradiert. Zunächst etwas frustriert, wird er bald Zeuge eines toten Jungen, der nackt vorgefunden wird – ganz ähnlich wie seinerzeit der Sohn Alexejs. Leo vermutet einen Zusammenhang und kommt einem chirurgisch versierten Serienmörder auf die Spur

„Mord ist eine rein kapitalistische Krankheit“ – die Aussage des russischen Offiziers spiegelt unverfälscht wider, wie die offizielle Seite gegenüber entsprechenden Taten in der Sowjetunion reagierte. Nur aufgrund dieser ignoranten Einstellung war es möglich, dass ein Andrei Romanowitsch Tschikatilo zwischen 1978 und 1990 über 53 Menschen umbringen konnte. Einen Serienmörder konnte und durfte es einfach nicht geben, so war die Auffassung Stalins und seines Gefolges. Tom Rob Smith lieh sich die Geschichte des Tschikatilo für den ersten Roman seiner Trilogie, verlagerte das Ganze jedoch in die 1950er, um die beängstigende Atmosphäre der Nachkriegszeit einzufangen und, wie er selbst sagt, den Druck auf Ermittler Leo zu erhöhen. Denn unter Stalin sei das System am extremsten gewesen und die Abkehr von der getreuen Linie hätte in den 80ern nicht dieselben Konsequenzen für Leo und dessen Familie gehabt. Die Kombination mit der Thematik des Waisenjungen, der als Opfer aus der russischen Vernichtungsstrategie gegenüber der Ukraine hervorging, später Karriere bei der Staatssicherheit macht und dann doch in Ungnade fällt, führt zu einem packenden Mix, den Daniel Espinosa nun mit Kind 44 verfilmt hat. Stets präsent ist dabei die Kritik an der sowjetrussischen Doktrin und dem Verhalten Stalins. Für Smith ist der Serienkiller dann auch „nur“ der verlängerte Arm des wahren Serienmörders Sowjetunion. Deren unmenschliche Taten in der Ukraine, so postuliert das Buch, führten letztlich zur Verrohung einiger, die dann ihrerseits nur durch Brutalität auffallen konnten. Kind 44 schlachtet dabei die Serienkillergeschichte nicht zum Selbstzweck aus. Wer also eine Dokumenation oder einen Thriller über die Suche nach dem Serienkiller Tschikatilo erwartet hatte, dem sei Richard Louries packendes Buch „Tschikatilo – Die Jagd nach dem Teufel von Rostow“ ans Herz gelegt.

Espinosas (der zuvor mit Safe House überzeugte) Film geht es vielmehr um das Festhalten der Stimmung in einer Zeit in Russland, in der fast jeder vor irgendetwas Angst haben musste. Ob treuer Soldat, der fürchten musste, denunziert zu werden oder unbescholtener Bürger, der plötzlich zum Volksverräter wurde – von Homosexuellen ganz zu schweigen. Diese bedrohliche Atmosphäre bekommt die Hauptfigur des Leo mit voller Wucht zu spüren und dennoch versucht er, sich seine moralische Integrität zu bewahren. Er ist praktisch die Antithese zum Killer. Beide hatten unter dem Hunger in der Ukraine zu leiden, haben jedoch unterschiedliche Konsequenzen daraus gezogen. Tom Hardy ist Leo Demidow und spielt den Protagonisten mit emotionaler Wucht und gleichzeitiger Verletztlichkeit. Seine Vita wird nach den zuletzt schon großartigen The Drop und No Turning Back an herausragenden Leistungen immer länger. Ihm zur Seite steht ein geradezu gewaltiges Cast. Von Noomi Rapace als Raisa über Gary Oldman als Leos Ermittlungspartner General Nesterov und Vincent Cassel als Gegenspieler Major Kuzmin bis hin zu Fares Fares (Schändung) als verbitterter Freund Leos und Vater des getöteten Jungen reichen die Namen der bekannten Gesichter. Beängstigend in seinen nur wenigen Szenen ist Paddy Considine als Täter. Schon die Momente, in denen er kleine Kinder dazu verführt, mit ihm zu kommen, sind intensiv – noch übertroffen jedoch von der Sequenz, in der er sich selbst geißelt. Ebenso bemerkenswert agiert Joel Kinnaman, der als Gegenspieler Leos besonders perfide darstellt, was das System von ihm verlangt. Während der Killer in der finalen Konfrontation mit Demidow zum Mensch wird, ist es der Stalinist Vasili, der für das wirklich Böse steht. Schauspielerisch ist Kind 44 zweifelsohne ganz großes Kino. Dass den Film dort weder in Deutschland noch in den USA wirklich jemand sehen wollte, mag zum einen an der düsteren Szenerie liegen und vielleicht auch am Thema. Am mehr oder weniger einzigen Kritikpunkt (dem opportunen Verhalten Raisas ihrem Leo gegenüber) kann’s kaum gelegen haben. Wer sich also die Zeit nimmt, seine Konzentration für gut 140 Minuten auf eine vielschichtige Story und sich langsam entfaltende Charaktere zu lenken, der wird nicht nur mit einigen Wendungen, sondern auch mit einem packenden Mix aus Drama und Thriller belohnt.

Bild- und Tonqualität

Dunkel geht’s zu in Kind 44: Die ersten zehn Minuten muss man sich schon anstrengen, um überhaupt Details wahrnehmen zu können. Auch im späteren Verlauf sind Innenraumsequenzen fast ausschließlich natürlich beleuchtet und deshalb ziemlich finster. Das ist zwar bisweilen etwas anstrengend für die Augen, fördert aber die authentische Atmosphäre. Erstaunlich ist allerdings schon, dass selbst taghelle Szenen unter freiem (und blauem) Himmel ziemlich düster geraten sind und gerade ein lichtschwächerer, reflexiv arbeitender Beamer hier wirklich zu kämpfen hat. Ebenfalls nicht so schön ist die nur bedingt gute Schärfe, die noch dazu in der Dunkelheit liegende Details verschweigt. Ist es mal hell und sind die Figuren nahe an der Kamera (Oldman und Hardy 58’00), klappt’s auch mit einem krispen Eindruck. Das sind dann aber eher seltene Fälle, zumal sich auch noch Randunschärfen am unteren Bereich hinzugesellen.
Kind 44 fängt extrem kraftvoll und dynamisch an, versetzt den Zuschauer während der offenen Auseinandersetzung im Berliner Reichstag unmittelbar ins Geschehen. Kugeln fliegen nur so an den Köpfen vorbi, die MGs rattern gewaltig durchs Heimkino und die Stielgranaten explodieren dumpf. Im Folgenden ist es häufig der orchestrale Soundtrack, der für Räumlichkeit sorgt oder auch die Szenen in den Fabriken. Stimmen sind stets klar verständlich und kommen sauber definiert aus der Mitte.

Bonusmaterial

Das Bonusmaterial von Kind 44 enthält das Featurette „Ein Blick in die Vergangenheit“, das acht Minuten lang vornehmlich Einblick in das Kreiieren des Looks gewährt und veranschaulicht, dass man mehrere hundert Uniformen individuell anfertigen lassen musste.

Fazit

Kind 44 ist perfekt besetztes und spannungsgeladenes Thriller-Drama-Kino mit politischer Note. Die leichten Längen im Mittelteil bügelt die vielschichtige Story locker aus. Allerdings muss man als Zuschauer die etwas sperrige Inszenierung durchaus mögen.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 60%
Tonqualität (dt. Fassung): 75%
Tonqualität (Originalversion): 75%
Bonusmaterial: 40%
Film: 80%

Anbieter: Concorde Home
Land/Jahr: USA/GB/TS/RU 2015
Regie: Daniel Espinosa
Darsteller: Tom Hardy, Gary Oldman, Noomi Rapace, Joel Kinnaman, Paddy Considine, Jason Clarke, Vincent Cassel, Fares Fares, Charles Dance
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, en
Bildformat: 2,35:1
Laufzeit: 138
Codec: AVC
FSK: 16

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Andi

Hallo Timo

Ich habe den Film (als DVD) am vergangenen Wochenende gesehen und danach erst deine Rezension gelesen. Ich kannte ihn vorher auch nicht. Ich stimme dir zu 100% zu und kann auch verstehen, dass und warum der Film bislang so unbekannt war. Er ist schon sehr schwere Kost, auch ich habe überlegt, ob ich mir den Film bis zum Ende anschaue. Der Film geht extrem tief und belastet emotional, vor allem, wenn man sich vorstellt, wie man sich selber in dieser Situation verhalten würde. Man weiß bzw. kann es sich sehr gut vorstellen, dass es sich tatsächlich genau so abgespielt haben könnte bzw, dass die Zeit dort genau so war.

Der Film regt auf jeden Fall zum Nachdenken an, vor allem in der jetzigen Situation mit dem Krieg in der Ukraine. Klasse aber sehr beängstigender Film.

Der Film ist sehenswert und empfehlenswert, aber nicht für jeden!

Die schauspielerische Leistung aller wichtigen Personen des Films fand ich überragend

Bild und Tonqualität sind für mich bei einem solchen Film unwichtig.