Manchester by the Sea

Blu-ray Review

Manchester by the Sea Blu-ray Review Cover
Universal Pictures, 01.06.2017

OT: Manchester by the Sea

 


Wieder Fuß fassen

Hier kommt ein ebenso bitterer wie süßer Film über Schuld, Liebe und die Bewältigung eines Traumas.

Inhalt

Lee Chandler hat eine feste Anstellung als Hausmeister in einem Bostoner Wohnkomplex. Birnen eindrehen bei älteren Damen, das verstopfte Klo der Mieter reinigen – alles Jobs, die er ohne Murren erledigt. Gut, manchmal könnte er etwas freundlicher sein, weshalb sein Vorgesetzter ihm immer mal wieder die Beschwerden der Bewohner vorlesen muss. Auch wenn er Abends in der Bar einen Drink zu viel hatte, kann es schon mal vorkommen, dass er mir nichts dir nichts aggressiv wird. Für sein Verhalten gibt es zwar einen Grund, doch den kennt keiner der Menschen um ihn herum. Als er eines Tages von der Einlieferung seines Bruders Joe ins Krankenhaus hört, muss er in das kleine Kaff Manchester (by the Sea) zurückkehren. Das hatte er vor Jahren aus einem bestimmten Grund verlassen und mit dem möchte Lee auf keinen Fall länger konfrontiert werden. Doch bevor er dort ankommt, stirbt Joe. Und weil der ihn als Vormund für seinen 16-jährigen Sohn Patrick eingesetzt hat, wird Lee praktisch gezwungen, seinen Job in Boston niederzulegen und vor Ort zu bleiben. Immerhin haben er und Patrick eine enge Verbindung zueinander. Die allerdings muss erst wieder neu entdeckt werden und man ist sich dann auch alles andere als einig darüber, wie das Leben weitergehen soll – zumal Lee sich mit jedem Tag mehr in der alten Heimat auch mit seinem alten Leben konfrontiert sieht …

Sechs Oscarnominierungen, zwei Auszeichnungen. Vier Golden-Globe-Nomierungen, eine Auszeichnung – Kenneth Lonergans dritter Spielfilm nach You Can Count on Me und Margaret gehört zu den Kritikerlieblingen der letzten anderthalb Jahre. Erstmals aufgeführt beim Sundance-Festival im Januar 2016, begeisterte Manchester by the Sea wie kaum ein anderer fast sämtliche Rezensenten. Die Geschichte, die ursprünglich unter anderem von Matt Damon entwickelt worden war, trug dieser an Lonergan heran, der daraufhin das Drehbuch verfasste. Damon selbst wollte eigentlich die Hauptrolle übernehmen, msste aber aufgrund von anderweitigen Verpflichtungen an den Bruder seines Buddys Ben Affleck abgeben. Keine schlechte Wahl, wie sich herausstellen sollte. Immerhin räumte Casey Affleck für seine Darbietung den Oscar genauso ab wie Lonergan für sein Drehbuch und das vollkommen zu Recht. Affleck ist es, der in all seinen Rollen immer Großes leistet. Selbst Actiondramen wie The Finest Hours hebt er durch seine Anwesenheit und sein Schauspiel übers Mittelmaß hinaus. In Manchester by the Sea allerdings könnte er perfekter kaum besetzt sein und nuancierter und trauriger wohl kaum spielen. Man muss ihn nur in seinen ersten Szenen sehen und weiß, dass die Figur, die er spielt, in seinen noch jungen Lebensjahren schon derart viel Elend gesehen hat, dass es daraus einen gebrochenen, traurigen und abgestumpften Mann gemacht hat, der den Weg in den Freitod vermutlich nur aus Antriebslosigkeit nicht gewählt hat.

Doch er beherrscht eben nicht nur diese Momente, sondern auch jene Rückblicke in die Vergangenheit, in denen er ausgelassen mit seinem Neffen vom Boot seines Bruders aus „den weißen Hai“ angelt. Eben die glücklichen Augenblicke, in denen das Leben noch in Ordnung war und er noch nicht das Gefühl hatte, vom Schicksal gebeutelt zu werden. Lonergan erzählt seinen Film zwar in der Gegenwart, nutzt aber ausgiebig Rückblicke, um nach und nach zu schildern, was aus Lee geworden ist – und vor allem warum. Mit einer Laufzeit von 137 Minuten nimmt sich der Film Zeit, viel Zeit. Und er nimmt seine Figuren ernst. Weil beides der Fall ist, wird man nach und nach immer mehr emotional mit ihnen verknüpft und beginnt nachzuempfinden, wie sich das Leben in Amerika abseits der Schönen und Reichen anfühlt. Es gibt ganz offenbar noch mehr als sonnengebräunte Figur-Ästheten an kalifornischen Stränden; mehr als unbeschwertes College-Dasein mit Studenten-Feten. Da sind auch noch die Bürger in den weniger betuchten Gegenden des Nordens, die den Strukturwandel nie vollzogen haben und die von Schicksalsschlägen besonders hart getroffen werden. Authentizität ist dabei das große Stichwort, unter dem man Manchester by the Sea sehen muss. Es ist schon unglaublich, wie nahe der Regisseur, der selbst eher aus der „Upper Middle-Class“ New Yorks kommt, an den Figuren der erklärten Unterschicht dran ist. An den Frauen und Männern, an denen der „American Dream“ eher vorbeigegangen ist und die für alles, was sie haben oder gerne hätten, hart arbeiten müssen.

Wer sich auf so etwas nicht einlassen kann oder möchte, der wird sich dabei durchaus schwer tun. Denn der Film beobachtet und schildert viel, erklärt aber nur wenig. Die Ereignisse erschließen sich nur nach und nach, kumulieren nach etwa einer Stunde dann aber in dem Höhepunkt, auf den man gewartet hat und der vermittelt, weshalb Lee der gebrochene Mann ist, der er ist. Schon der Anlass ist schlimm genug und hinterlässt einen Kloß im Hals, wenn Lee scheinbar regungslos das Geschehen beobachtet. Doch spätestens in dem Moment auf der Polizeiwache, weiß man, warum die Academy Affleck den Goldjungen verliehen hat.
Dass Manchester by the Sea kein zweistündiger Depri-Trip ist, liegt daran, dass Lonergan die leichte Note ebenfalls integriert. Meist in Person von Patrick, der von Lucas Hedges (Kill the Messenger) mit Bravour dargestellt wird. Seine Performance und die Tatsache, dass er dem Tod des Vaters seinen eigenen Lebensmut gegenüberstellt, erleichtern dem Zuschauer den Zugang und bewirken immer wieder ein entspannendes Lachen. Patrick wirkt dabei ein wenig wie ein junger Lee. Ein Lee, der zwanzig Jahre zuvor ähnlich lebensfroh war und zwischen Schulsport und Mädchen hin- und hertingelte. In einer herausragenden Szene hält der Junge dem Onkel einen Vortrag, warum es Quatsch wäre, wenn man gemeinsam nach Boston zöge – immerhin hat Lee dort nur einen Hausmeister-Job und keine Freunde, während Patrick in seinem Heimatdorf eine ganze Zukunft hat. In den Konfrontationen zwischen den Beiden (den bitteren wie den humorvollen) hat der Film seine stärksten Szenen und wirkt ebenso schlicht wie real. Patrick ist es, der versucht, seinen Onkel wieder in die Spur zu bringen und ihm dabei zu helfen, seine Schuldgefühle los zu werden. Dass Manchester by the Sea am Ende seinen Figuren die Grenzen der Trauma-Bewältigung aufzeigt, ist nur konsequent und ebenso ehrlich und mutig wie der ganze Film.

Bild- und Tonqualität

Manchester by the Sea wurde vollständig digital gefilmt und im Anschluss einem sichtbaren Bearbeitungsprozess unterworfen. Das Korn ist gerade auf Himmelshintergründen deutlich sichtbar und Halbtotale im verschneiten Ort dürften weitaus schärfer sein (3’35, 70’33). In Innenräumen wird die Bildruhe besser und auch die Kontrastierung gefällt mit teils kräftigen Farben und guter Hell-Dunkel-Dynamik.
Akustisch ist Manchester by the Sea vollkommen unspektakulär und fokussiert auf die zentrale Darstellung der Dialoge. Selbst Umgebungsgeräusche sind vornehmlich auf die Front beschränkt. Der räumlichste Moment stellt sich tatsächlich nach gut 84 Minuten ein, wenn auf der Beerdigungsfeier das Murmeln der Gäste von allen Lautsprechern erklingt. Der Filmscore und Soundtrack ist hin und wieder ebenfalls etwas offener, ohne jedoch Dynamikwurzeln auszureißen. Tatsächlich bleibt die Auto-Standby-Lampe des Subwoofers die meiste Zeit auf einem inaktiven Rot.

Bonusmaterial

Das Bonusmaterial von Manchester by the Sea enthält drei entfernte Szenen sowie ein Featurette: „Die Entstehung von Manchester by the Sea“ kümmert sich in knapp einer Viertelstunde um die Entwicklung der Idee, die Besetzung und die Zusammenarbeit mit Regisseur/Drehbuchautor Kenneth Lonergan. Von dem gibt’s auch noch einen Audiokommentar.

Fazit

Manchester by the Sea besticht durch seine zurückhaltende und unaufgeregte Inszenierung, ein fein ausgearbeitetes Drehbuch und bis in die kleinsten Nebenrollen fantastisch besetzte Schauspieler – ein Glücksfall fürs Independent-Erzählkino, für den man sich Zeit nehmen sollte und der noch lange nachwirkt. Gerade, weil er an einer Stelle aufhört, an der das Trauma noch nicht bewältigt ist.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 65%
Tonqualität (dt. Fassung): 60%
Tonqualität (Originalversion): 60%
Bonusmaterial: 40%
Film: 85%

Anbieter: Universal Pictures
Land/Jahr: USA 2016
Regie: Kenneth Lonergan
Darsteller: Casey Affleck, Lucas Hedges, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol, Matthew Broderick,
Tonformate: dts HD-Master 5.1: en  // dts 5.1: de
Bildformat: 1,85:1
Laufzeit: 137
Codec: AVC
FSK: 12

Trailer zu Manchester by the Sea

Manchester By The Sea - Trailer german / deutsch HD