Blu-ray Review
OT: Mommy
Ein Funke Hoffnung
Wenn ein 26-jähriger Regisseur einen Film dreht, der mehr Wahrhaftigkeiten preisgibt, als man noch von einem doppelt so alten Filmemacher erwarten könnte, ist Aufhorchen angesagt.
Inhalt
Ungeachtet der Tatsache, dass ihr Sohn Steve ein hyperaktiver Draufgänger ist und nun schon zum wiederholten Male aus einem Heim für schwer erziehbare Kids geflogen ist, liebt die Witwe Diane ihren Teenager-Nachwuchs. Notgedrungen nimmt die resolute Mutter, die ihrem lockeren Mundwerk stets freien Lauf lässt, Steve mit zu sich nach Hause, nachdem der im Heim einen Brand gelegt hat. Das Zusammenleben gestaltet sich trotz ihres lockeren Umgangs mit dem unter ADHS leidenden Jungen, totz der Tatsache, dass sie ihm auf gleicher Ebene begegnet, zunehmend schwierig. Und die Tatsache, dass er fortlaufend brüllt ist da noch das geringste Übel. Diane, die zunächst noch guter Hoffnung ist, Steve zuhause selbst zu unterrichten und ihm so doch noch eine gewisse schulische Bildung mitzugeben, merkt schnell, dass ihr die Situation über den Kopf wächst. Spätestens als er sie schlägt und fast erwürgt, wird die Situation brenzlig. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: Die extrem scheue Nachbarin Kyla, die aufgrund einer Sprachstörung kaum vor die Tür geht, besänftigt Steve und findet Zugang, wo andere auf Granit stoßen – und das nicht nur während der sensiblen, sondern auch während der mitunter gefährlich aggressiven Momente. Die Beziehung unter den Dreien gedeiht zu einer großen gegenseitigen Freundschaft und es scheint immer weiter bergauf zu gehen – doch dann droht ein nächster Schicksalsschlag …
Dass Mommy ein absolut ungewöhnlicher Film ist, macht er von der ersten Szene an klar. Das bewusst gewählte Bildformat von 1:1, das entsprechend noch schmaler ist als unser altes 4:3-Fernsehbild, engt die Protagonisten förmlich ein. Immer wieder fallen große Teile aus dem Bild heraus, finden praktisch im schwarzen Bereich links und rechts vom Sichtbaren statt. Dieser Kniff des erst 25-järigen Kanadiers Xavier Dolan mag Technikfreaks verstören oder gleich auf die „Aus“-Taste drücken lassen, ist aber der Stimmung von Mommy und dem vermittelten Thema mehr als zuträglich. So wirken Steves Wutanfälle noch unmittelbarer und unkontrollierter, man spürt förmlich, wie er gegen jede Art der Einengung rebelliert. Auch fungiert der enge Screen als Korsett für die dramatischen Entwicklungen, verdeutlich, wie sehr die drei Hauptfiguren in ihrem Leben gefangen zu sein scheinen. Trotz der knapp 140 Minuten Laufzeit wird Mommy zu keiner Zeit zäh – vorausgesetzt natürlich, man kann sich auf das Thema und die triste Grundstimmung einlassen. Wobei Tristesse nicht immer das richtige Wort ist. Oft gelingt es Dolan, der auch das Drehbuch schrieb, komische Momente einzuflechten. Momente, die auflockern und zeigen, dass es trotz der schwierigen Situation zwischen Mutter und Sohn auch entspannt sein kann. Und natürlich reiht der Film nicht melodramatische Szene an melodramatische Szene, sondern zeigt die Entwicklung seiner Figuren, die eben auch positiv sind und Lebensfreude ausstrahlen. Das führt beispielsweise in dem Moment, da Steve die Arme ausbreitet und sinnbildlich für die Hoffnung das kleinformatige Bild zur Seite drückt, es zu einem Breitbild aufschiebt, zu einer echten Gänsehaut. Vollkommen zu Recht wurde der Film 2014 mit dem Preis der Jury von Cannes ausgezeichnet.
Mommy würde allerdings nicht funktionieren und das schwierige Thema nicht so mitreißend präsentieren, wenn die Darsteller nicht Herausragendes leisten würden. Antoine-Olivier Pilon als Steve mag zunächst aufs Kreischen, um sich schlagen und Schimpfworte rezitieren beschränkt sein, zeigt aber urplötzlich ultrasensible und verletzliche Seiten. Seinem dynamischen Spiel ist zu verdanken, dass man dem Braten in Mommy nie so richtig traut – selbst wenn er zur Abwechslung mal ruhig zu sein scheint. Anne Dorval als Diane liefert an Pilons Seite eine der stärksten Vorstellungen, die eine Frauenrolle zuletzt überhaupt ermöglichte. Wie sie auf der einen Seite voller Sarkasmus gegenüber den ihr verhassten Menschen agiert, gleichzeitig aber gerade bei der schüchternen Kyla ihre schwache Seite zeigt und ihr gegenüber mit offenem Herzen und Wärme auftritt – das ist Schauspiel auf hohem Niveau mit einer Unmenge an feinen Nuancen. Umso erstaunlicher, dass Mommy gleichzeitig noch eine zweite, extrem starke Frauenfigur präsentiert. Suzanne Clément erfüllt die zurückgezogene Kyla mit Leben und überzeugt schon in ihren schwierigen ersten Szenen, in denen sie kaum Worte über die Lippen bringt. Je stärker und selbstbewusster sie wird, desto packender wird dann ihr Spiel und in dem Moment, in dem sie Steve erstmalig in die Schranken weist, hält man als Zuschauer praktisch den Atem an. Zuvor gibt es aber bereits einen magischen Kinomoment, in dem Steve, Diane und Kyla zu Celine Dions „On ne change pas“ in der Küche singen und tanzen. Dass der noch so junge Xavier Dolan dann knapp 30 Minuten vor dem Ende eine unglaublich schöne Montage mit kongenialer Musik unterlegt auf die Leinwand zaubert, sollte jedem alten Hasen des Regiefachs die Schamesröte ins Gesicht treiben – bewegender geht’s fast nicht, wenngleich Dolan seinem Film natürlich treu bleibt und die Sequenz dann doch zu schön ist, um wahr zu sein. Ohne je in ein Klischee zu verfallen, endet Mommy dann mit einem kraftvollen Bild, das dem geneigten Arthaus-Fan noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
Bild- und Tonqualität
Der im absolut ungewöhnlichen Bildformat von 1:1 gefilmte Mommy ist bisweilen und während gut ausgeleuchteter Szenen recht scharf. Die Kontrastgebung geht in hellen Szenen in Ordnung und differenziert sehr gut zwischen den Farben, in dunkleren Bereichen wird’s allerdings etwas milchig. Aufgrund des engen Bildausschnitts geraten schnellere Bewegungen schon mal anstrengend. Man kann einfach nicht so schnell mit den Augen folgen und die schnell aus dem Bild fallenden Personen verwirren optisch.
Akustisch liegt Mommy in zwei unterschiedlichen Formaten vor. Der dts-HD-Master-Sound in 5.1 bleibt meist frontal, wird dann aber urplötzlich während bestimmter Szenen immens dynamisch und effektvoll (Steve taucht aus dem Eiswasser auf). Auch der hervorragend ausgewählte Soundtrack gestaltet sich immer wieder räumlich.
Bonusmaterial
Das Bonusmaterial von Mommy beherbergt neun unveröffentlichte Szenen sowie sechs Interviews (mehrere davon mit dem Regisseur) und Szenen von der Preisverleihung in Cannes.
Fazit
Es ist durchaus verständlich, wenn der eine oder andere eher dem Mainstream verpflichtete Zuschauer mit Mommy nichts anfangen kann. Xavier Dolans Film ist radikal, frontal, manchmal schmerzhaft, oft bewegend, immer wieder mitreißend und zu keiner Zeit langweilig – so kann ambitioniertes Kino aussehen, wenn’s richtig gemacht wird!
Timo Wolters
Bewertung
Bildqualität: 55%
Tonqualität (dt. Fassung): 65%
Tonqualität (Originalversion): 65%
Bonusmaterial: 40%
Film: 90%
Anbieter: Weltkino/Studiocanal
Land/Jahr: Kanada/Frankreich 2014
Regie: Xavier Dolan
Darsteller: Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément, Alexandre Goyette, Patrick Huard
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, fr // dts HD-Master 2.0: de
Bildformat: 2,35:1
Laufzeit: 138
Codec: AVC
FSK: 12