Blu-ray Review
OT: Murder on the Orient Express
Gleichgewicht
Oldschool-Krimi mit oldschool-Filmtechnik fürs moderne Kinopublikum.
Inhalt
Hercule Poirot, Meisterdetektiv aus Belgien, hat gerade einen Fall in Jerusalem abgeschlossen, der das Land in einen Glaubenskrieg hätte führen können und möchte nach getaner Arbeit nun im berühmten Orient Express nach Hause reisen. Der Zug ist zwar bis auf den letzten Schlafplatz ausgebucht, doch Poirot gelingt es, im letzten Moment noch ein Ticket zu ergattern. Kaum hat die Reise begonnen, will der amerikanische Geschäftsmann und Kunsthändler Ratchett ihn für Geld zu seinem Schutz engagieren – hat er doch angeblich ein paar Teppichhändler verärgert und fühlt sich nun bedroht, fürchtet gar um sein Leben. Doch Poirot lehnt ab. Immerhin jagt er Verbrecher und beschützt sie nicht. In der kommenden Nacht bleibt der Zug in einer Schneewehe stecken und Ratchett liegt ermordet in seinem Abteil. Zwölf Messerstiche haben ihn das Leben aushauchen lassen. Da der Mörder noch im Calais-Abteil sein muss und die Polizei nicht benachrichtigt werden kann, beginnt Hercule Poirot mit den Ermittlungen. Nach und nach befragt er alle Zugreisende im Wagon und stellt fest, dass Ratchett nicht derjenige ist, für den er sich ausgegeben hat und die Befragten allesamt Verbindung zu einem alten Mordfall haben …
Kenneth Branagh war ungeachtet seiner letzten Ausflüge ins Blockbuster-Unterhaltungskino immer ganz besonders dem klassischen (Film)Stoff verpflichtet. Wenn also einer kommen und nach über 40 Jahren eine Neuverfilmung des Sidney-Lumet-Klassikers auf Grundlage des legendären Krimis von Agatha Christie wagen würde – wer hätte es anders sein sollen?
Mord im Orient Express ist inhaltlich und vor allem visuell und in Sachen Ausstattung wie geschaffen für den Shakespeare-Liebhaber, der sich (wie so oft) gleich selbst als Hauptdarsteller in Szene setzt. Ob das vornehmlich überheblich ist oder er sich augenzwinkernd in den Dienst der Geschichte stellt? Nun, optisch zwinkert er sehr, der Herr Branagh. Denn mit seinem gigantischen Oberlippenbart, der auch Bismarck oder Kaiser Wilhelm II. gut gestanden hätte, sowie dem Hang zur Perfektion – oder besser gesagt einer Abneigung gegen etwaiges Ungleichgewicht – gibt er einen ebenso verschmitzten wie stets moderat arroganten Hercule Poirot.
Natürlich ist Branagh aber nicht alleine. Was er hier an einem Cast versammeln konnte, steht dem 74er Lumet kaum nach: Johnny Depp, Judi Dench, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Michelle Pfeiffer – das sind schon ein paar sehr hochkarätige Namen. Und alle werden nach und nach in kurzen Sequenzen vorgestellt. Von der ebenso jungen wie forschen Mary Debenham über den etwas ungeduldigen Dr. Arbuthnot bis hin zum Lebemann Bouc und der mit Klunkern behangenen Fürstin Natalia Dragomiroff.
Das spätere Opfer, Mr. Ratchett, bekommt ebenfalls seine Einführung und gibt Johnny Depp die Möglichkeit, nicht nur durch eine komplett andere Maske, sondern auch durch eine Darstellung aufzufallen, die sich wohltuend von seinen letzten Figuren abwendet. So hatte man zuletzt doch häufig das Gefühl, er könne seinen Piraten Jack Sparrow oder aber die zahlreichen Tim-Burton-Charaktere nicht so recht abschütteln. Hier bekam er die Maske eines deutlich älteren Herren verpasst, dessen Gesicht vernarbte Spuren hat und darf mal so richtig schmierig-arrogant agieren. Von einem Sparrow keine Spur.
Klasse sind aber nicht nur altgediente Mimen wie Dame Judi Dench, die ihre Zofe stets misslaunig und belehrend behandelt, oder Willem Dafoe, der sich als Professor und Rassist schnell als Unsympath herausstellt, sondern gerade die Nachwuchsdarsteller. Daisy Ridley als moderne Mary Debenham zeigt nicht nur besagtem Professor Hardman selbstbewusst, wie sie zu dessen rassistischen Äußerungen steht, sondern ist gleichzeitig eine höchst aparte Erscheinung.
Von der Vorstellung der Figuren abgesehen, sind die ersten zwanzig Minuten so schmissig und flüssig inszeniert; mit solch wunderbaren Kamerafahrten durch den Bahnhof oder von außen am Zug vorbei gefilmt, dass man sofort im Bann dieses im besten Sinne altmodischen Films ist.
Denn einen großen Anteil an der Atmosphäre von Mord im Orient Express haben die sensationellen Bilder vom zypriotischen Kameramann Haris Zambarloukos. Der hatte mit Kenneth Branagh schon in Thor und Jack Ryan: Shadow Recruit zusammengearbeitet und dort ebenfalls analog gefilmt. War es bei beiden genannten Filmen aber noch 35mm-Material, ging Branagh dieses Mal zurück zu seinen Wurzeln von Hamlet und überzeugte das Studio, in 65mm drehen zu lassen. Eine gute Entscheidung.
Denn das, was eine 65mm-Kamera mit entsprechenden Objektiven an Details herausarbeitet, kann von keiner digitalen Filmkamera der Welt erzeugt werden. In Mord im Orient Express geht es darum, wie ein Mann zwölf Verdächtige verhört. Es geht um deren Schauspiel und um kleinste Regungen, Nuancen in der Darstellung. Das breite Filmformat spiegelt diese Regungen perfekt wieder. Es zeigt die winzigsten Gesichtsbewegungen und lässt die Akteure observiert und vergrößert erscheinen. Außerdem ist es möglich, alle Figuren selbst innerhalb einer bewegten Szene zu zeigen, ohne Schnitte setzen zu müssen. Dazu kommen sensationelle Aufnahmen wie die letzte von Poirot, in der er den Zug verlässt. Diese drei Minuten lange Sequenz wird als der längste 65mm-Steadicam-Shot aller Zeiten in die Filmgeschichte eingehen. Man muss sich vorstellen, dass eine Panavision 65 HR ein immenses Gewicht hat. Sie so lange am Stück in Bewegung zu halten, wurde nur durch aufwändige Krankonstruktionen möglich, die den Meisterdetektiv durch die gesamte Länge des Zugs begleiteten – eine grandiose Szene.
Aber auch atmosphärisch verdichtet der Film durch seine Optik. Was mit weitläufigen Aufnahmen Jerusalems (gefilmt auf Malta) in der Sonne beginnt und dann im Zug immer enger wird, endet in der Düsternis und Kälte des Schnees – auf diese Weise unterstreicht Mord im Orient Express auch visuell, was inhaltlich widergespiegelt wird. Etwas anstrengend in diesem Zusammenhang sind lediglich die eingestreuten Aufnahmen aus der Vogelperspektive, die direkt von oben auf die Köpfe der Protagonisten filmen. Das vermittelt zwar die klaustrophobe Enge, verwirrt aber die Sinneswahrnehmung des Zuschauers etwas.
Inhaltlich hält sich der Film an die bekannte Geschichte, doch es gibt eine Abweichung: Kenneth Branagh. Der Regisseur war auch früher immer schon gerne sein eigener Hauptdarsteller und eine gewisse Selbstverliebtheit kann man ihm eben nicht absprechen. Die Konzentration auf seinen Hercule Poirot nimmt den anderen Figuren den Raum. Der Zuschauer bekommt überdies nur wenig Gelegenheit, sich das Puzzle selbst zusammen zu setzen und die finale Schlussfolgerung hat einfach nicht den erlösenden Charakter, den das 1974er Werk von Lumet aufwies – und das ganz unabhängig davon, dass jene, die dessen Film kennen, auch die Auflösung wissen. Außerdem trägt Branagh dann doch etwas dick auf, wenn er sein ganzes Dutzend Verdächtiger am Ende an einer langen Tafel sitzen lässt wie Leonardo da Vinci Jesus und seine zwölf Apostel beim berühmten Abendmahl.
Bild- und Tonqualität BD
Wie schon etwas weiter oben beschrieben wurde, drehte man Mord im Orient Express auf 65mm-Analogfilm – und das sieht man. Die Aufnahmen liefern unglaublich satte Kontraste und eine extrem breite Farbpalette. Wahnsinn, wie gut schon die Blu-ray aufgelöst ist, wenn man sich das feine Muster auf Poirots Anzugjacke anschaut (3’32). Selbst das vorhandene Filmkorn kann an dieser sensationellen Schärfe nichts ändern. Zumal es genau das tut, was es soll: Nämlich einen authentischen Filmlook erzeugen, der so unnachahmlich halt nur von analogem Material kommen kann. Aber zurück zur Schärfe: Man meint tatsächlich, jedes einzelne Sandkörnchen in der Klagemauer zählen zu können und der Kontrastumfang ist schlicht gigantisch, wenn der Priester in seiner schwarzen Robe vor dem Sandstein steht (5’15). Diese und ähnliche Beispiele gibt es zu Genüge und man kommt aus dem Schwärmen kaum raus. Das Schöne dabei ist die Tatsache, dass trotz der hellen Sonne die hellen Gesichtsbereiche nicht überstrahlen – auch ein technischer Vorzug von 65mm-Material, das viel mehr Dynamikumfang erlaubt. Wer exemplarisch sehen möchte, wie referenzwürdiges Analogmaterial aussehen kann, der nimmt sich mal den Schwenk über das Fladenbrot vor – viel mehr Detailvielfalt und -tiefe ist kaum möglich (11’24). Nicht allzu schmeichelhaft ist die Auflösung bei Close-ups, denn sie legt einfach jedes Fältchen und jedes kleine Härchen offen. Die Bildqualität bleibt übrigens auch erhalten, wenn die Szenerie in den Zug und später in den Schnee wechselt. Einziger kleiner Kritikpunkt sind ganz kleine Unruhen auf Gesichtern bei kurzen, ruckartigen Bewegungen, ganz leichte Überkontrastierungen in hellen Gesichtsbereichen und ein dezenter Blaustich auf sehr schwarzen Flächen.
Dennoch: Alles in allem ist die Blu-ray fast auf Referenzniveau. Hier wird’s für die UHD schwer, das noch zu übertreffen.
Akustisch geht 20th Century Fox bei der Blu-ray den bekannten Weg und liefert für den deutschen Ton von Mord im Orient Express eine reguläre 5.1-dts-Spur. Der englische Ton liegt hingegen in dts-HD-Master vor (und liefert mit 7.1 Spuren zwei weitere Kanäle). Von den sieben Kanälen mal abgesehen, tun sich zwischen beiden Fassungen nahezu keine Unterschiede auf. Trotzdem dass die hiesige Version auf 0.7Mbps beschränkt bleibt, muss man schon genau hinhören, um beim Abgang der Lawine und ihrem Eintreffen auf den Zug wirkliche Unterschiede heraus zu hören. Hier rumst es bei der deutschen Fassung ebenso stark wie im Original (34’48). Das vorherige Gewitter kracht ebenfalls bereits effektvoll und die Filmmusik kommt sehr weiträumig aus den Speakern. Hervorragend gelungen sind die atmosphärischen Geräusche: Gedämpfte Schritte in den Abteilen, Geschirr und Gläser im Speisewagen – das alles kommt in hohem Maße authentisch rüber. Die Stimmen sind sowohl im Original als auch in der Synchro vorzüglich verständlich und die Einbindung der unterschiedlichen Dialekte geschah zur Abwechslung mal sehr hochwertig und nicht albern.
Was sich allerdings nicht verleugnen lässt: Die englischen Stimmen sind bisweilen von einem leichten Rauschen begleitet, das nach einem gewissen Einsatz eines Limiters klingt.
Bild- und Tonqualität UHD
Und die liefert ab! Wo die Schärfe schon bei der Blu-ray wirklich gut war, legt sie bei der UHD noch mal nach und lässt die ruhigen Close-up mit prächtigen Einzelheiten im Heimkino erscheinen. Poirots Bart wirkt noch mal ein Stückchen plastischer und feiner, die Falten und Unebenheiten in Branaghs Gesicht lassen sich förmlich greifen. Auch das äußerst schwierige Muster in seinem Jacket wird präzise und ohne jede Unruhe wiedergegeben (6’08).
Gleich gut schlägt sich die Farbwiedergabe, die zwar von der Integration eines erweiterten Farbraums im Rahmen von Rec.2020 profitiert, es aber nicht übertreibt. Ganz im Gegenteil. Denn während der helleren Szenen sind die warmen Farben der Hauttöne sogar eher etwas reduziert. Sie wirken dadurch nicht ganz so gelb und kommen einem gesunden Teint noch näher. In den dunkleren Bereichen wirken die Farben etwas kräftiger, was allerdings vornehmlich durch den höheren Kontrastumfang und das damit verbundene sattere Schwarz kommt.
Die höhere Bilddynamik, die hier in HDR10 vorliegt, liefert tatsächlich vornehmlich ein etwas dunkleres Bild, dessen Schwarzwert satter ist. Nur selten gehen dadurch Details im Dunkeln etwas verloren, wohingegen helle Bereiche besser durchzeichnet sind und gar nicht mehr zum Überstrahlen neigen. Leichte Farb- und Kontrastschwierigkeiten gibt es, wenn bei der finalen Auflösung die Delinquenten hinter natürlichem Feuer sitzen und die Kamera-Aufnahmen hier vornehmlich auf dieses natürliche Licht setzten. Dies bewirkt eine etwas flache Bilddarstellung.
Unverändert ist das leichte Rauschen, das die englischen Dialoge begleitet.
Bonusmaterial
Das Bonusmaterial von Mord im Orient Express ist reichhaltig mit Featurettes gefüllt. Beginnen tut es mit einem „intimen Porträt von Agatha Christie“, bei dem sogar noch lebende Verwandte wie ihr Enkel Mathew Richard zu Wort kommen. Der gibt beispielsweise preis, dass die Bücher der Großmutter zunächst an seinen Lehrer gingen, da dessen Frau (wie er später herausfand) ein großer Fan war. Im dreiteiligen „Die unüblichen Verdächtigen“-Featurette wird für jeweils ca. fünf Minuten über das Cast gesprochen. Gerade Kenneth Branagh spricht von seinen Kollegen in den höchsten Tönen – und das absolut authentisch. Man nimmt ihm die Begeisterung für die Darsteller und ihr Schauspiel absolut ab. Hercule Poirot bekommt im gleichnamigen Featurette ebenfalls eine Bühne. Gut zehn Minuten lang spürt man den Wurzeln des Charakters in Christies Büchern nach und erfährt, dass er zunächst nur als einmalige Figur gedacht war. In „Die Kunst eines Mordes“ wird die Produktion selbst aufgerollt – von der erneuten Vergabe der Filmrechte bis hin zur Besetzung. „Alle an Bord“ hingegen kümmert sich mehr um die technische Seite der auf 65mm Film gedrehten Romanadaption. Ein letztes Featurette kümmert sich um die Filmmusik und 13 entfernte Szenen ergänzen das Extramaterial gemeinsam mit dem Audiokommentar von Branagh und Michael Green.
Fazit
Mord im Orient Express entführt den Zuschauer in eine (Kino)Welt, die er heute kaum noch kennt. Mit altmodischen Figuren, traditionellem Filmmaterial und klassischer Erzählweise unterhält Branaghs Neuinterpretation trotz der Tatsache, dass der Regisseur sich selbst nur allzu gerne in den Mittelpunkt stellt. Wer aber nur ansatzweise etwas übrig hat für gute alte und episch aufgezogene Filme vor grandioser Kulisse, wird mit dieser Neuinterpretation des Agatha-Christie-Stoffs viel Freude haben.
Die UHD hat das noch mal etwas harmonischere und sichtbar schärfere Bild sowie eine englische Atmos-Spur, deren 3D-Soundinfos zwar spärlich sind, sich dann aber durchaus gut anhören.
Timo Wolters
Bewertung
Bildqualität BD: 90%
Bildqualität UHD: 90%
Tonqualität BD/UHD (dt. Fassung): 80%
Tonqualität BD (Originalversion): 75% (Abwertung aufgrund leichten Rauschens während der Stimmwiedergabe)
Tonqualität UHD 2D-Soundebene (Originalversion): 75% (Abwertung aufgrund leichten Rauschens während der Stimmwiedergabe)
Tonqualität UHD 3D-Soundebene Quantität (Originalversion): 40%
Tonqualität UHD 3D-Soundebene Qualität (Originalversion): 75%
Bonusmaterial: 80%
Film: 75%
Anbieter: 20th Century Fox
Land/Jahr: USA 2017
Regie: Sir Kenneth Branagh
Darsteller: Sir Kenneth Branagh, Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, Daisy Ridley, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Dame Judi Dench,
Tonformate BD: dts-HD-Master 7.1: en // dts 5.1: de
Tonformate UHD: Dolby Atmos (True-HD-Kern): en // dts 5.1: de
Bildformat: 2,39:1
Laufzeit: 115
Codec BD: AVC
Codec UHD: HEVC
Real 4K: Ja (4K DI)
High Dynamic Range: HDR10
FSK: 12
(Copyright der Cover, Szenenbilder und vergleichenden Screenshots liegt bei Anbieter: 20th Century Fox)
Ich gehöre 100% zu der von dir angesprochenen Zielgruppe die die solches Retro-Zeug mag. Den alten Film von Sidney Lumet finde ich grandios. Demgegenüber war ich vom hier rezensierten Machwerk sehr enttäuscht. Für mich ein blutleerer Aufguss, der nur durch gutes Bild und Ton punkten kann. Selbst in der Stilistik wurde meines Erachtens teils geschludert. Was soll der neon-Schriftzug uns sagen? 80er-Jahre? Auch Cinemascope ist, so sehr ich es auch mag, hier fehl am Platz. Passendes oldschool wäre 4:3 oder zumindest in Richtung 16:9.