Pieces of a Woman [Netflix]

Blu-ray Review

Netflix, 07.01.2020

OT: Pices of a Woman

 


Eine kurze Zeit

Herausragend gespieltes Drama mit Oscar-Ambitionen.

Inhalt

Mama Elizabeth zahlt für den Familien-Van

Martha und Sean bekommen ein Baby. Ein super glücklicher Anlass für den Brückenbauer und die einfache Angestellte. Fest steht, dass sie das Kind Zuhause bekommen wollen. Unbedingt. Ihre Hebamme haben sie schon. Doch als die Wehen in regelmäßigen Abständen kommen, ist Barbara gerade in einer anderen Geburt. Stattdessen ruft Sean eine andere Geburtshelferin an, Eva. Eva kommt sofort und begleitet den Beginn der Geburt. Doch dann gibt es Komplikationen. Das Baby hat unter den Wehen zu wenig Sauerstoff. Eva empfiehlt, das Krankenhaus anzurufen und die Geburt so schnell wie möglich zu absolvieren. Doch die Zeit reicht nicht. Das Baby kommt. Und für den Moment scheint alles in Ordnung. Dann jedoch setzt die Atmung aus und Reanimationsversuche bleiben erfolglos. Für Sean und Martha ist dieses Ereignis kaum zu überwinden. Mehr und mehr entzweien sie sich. Auch Marthas Mutter schießt quer, da sie ihrer Tochter die Schuld gibt, weil sie unbedingt eine Hausgeburt haben wollte. Martha indes sucht ihr Heil darin, gegen die Hebamme vorzugehen. Denn diese ist kein unbeschriebenes Blatt und hatte bereits einen Prozess wegen fahrlässiger Tötung …

Martha durchlebt die ganz “normale” Hölle des Kinderkriegens

Vorab eine wirklich eindringliche Warnung ohne jeden Hintergrund der Effekthascherei: Schwangere und ihre Partner sollten sich sehr gut überlegen, ob sie sich dieses Netflix-Originals-Drama anschauen – ja antun möchten.
Pieces of a Woman wird derzeit als heißer Kandidat für die kommende Oscarverleihung (wie auch immer diese stattfinden wird) gehandelt. Zumindest im Falle der weiblichen Hauptrolle sollte Vanessa Kirby die Nominierung absolut sicher sein. Bevor wir am 15. März mehr darüber wissen, kann das Netflix-Publikum das Drama und englischsprachige Debüt vom ungarischen Regisseur Kornél Mundruczó (Jupiter’s Moon) allerdings schon begutachten – und damit auch die außergewöhnliche Performance von Kirby. Mundruczó inszeniert seinen Film auf Basis des Skripts seiner Partnerin Kata Wéber, was wiederum auf dem gleichnamigen Theaterstück vom TR Warszawa von 2018 basiert, das die beiden ebenfalls bereits gemeinsam inszeniert hatten. Und der Film wirft den Zuschauer während der ersten halben Stunde in ein Szenario, das eben durchaus dazu angetan ist, das Handtuch zu werfen. Und das nicht nur bei den oben beschriebenen, gerade schwangeren Paaren. Auch für solche Zuschauer, die sich gerade nicht mit dem Thema Kinderkriegen beschäftigen, ist das starker und stark gespielter Tobak, der an Grenzen geht. Und das sicherlich stärker als es so mancher Horrorfilm vermag.

Ersatz-Hebamme Eva kümmert sich engagiert

Das liegt neben Vanessa Kirbys Leistung auch am zweiten Highlight, nämlich des knapp 23-minütigen, atemlosen One-Take-Shots der Geburt. Beginnend vom ersten Anruf bei der Hebamme bis hin zur Ankunft des Notarztwagens (und dem dann erst eingeblendeten Filmtitel) ist das Geschehen am Stück gefilmt. Bis auf einen einmaligen Probelauf (die der Regisseur mit seinem Handy aufzeichnete) wurde die Szene nicht geübt. Man hat es also mit einer weitgehend improvisierten Sequenz zu tun, die auf den Recherchen basiert, welche die Darsteller zuvor hinter sich gebracht haben. Vor allem Kirby selbst (die noch kinderlos ist) ging dafür etwas weiter und beobachtete echte Geburtshelferinnen bei ihrer Arbeit. Laboeuf ließ sich indes die schlechten Witze spontan einfallen. Insgesamt sechs Mal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen hat man die Szene gefilmt, was sowohl den Schauspielern als auch Kameramann Benjamin Loeb alles abverlangte. Geworden ist es dann übrigens der letzte Take des ersten Tages. Loeb bleibt mit seiner Optik oft ein wenig unterhalb der Kopfhöhe der Darsteller und bewegt die auf einer Gimbal installierte Kamera in fließenden Bewegungen. Handkamera-Wackeln wollte er unbedingt vermeiden, um keinen Doku-Look zu erzeugen. Und was am Ende dabei raus kam, gehört sicherlich zum intensivsten, was ein Filmdrama in den letzten Jahren eingefangen hat. Alle Beteiligten gehen hier an ihre körperlichen und psychischen Grenzen – auch Kameramann Loeb, für den die Kameraführung ohne Schnitt Schwerstarbeit war. Kirby aber toppt diese Szene mit einer Performance, die in der Tat deutlich weiter geht als alles, was Hollywood bisher für Geburtsdarstellungen hielt – und davon sind die Würge- und Rülpsgeräusche noch das geringste Detail. Wer schon mal bei einer Geburt zugegen war, der weiß, dass es mit unglaublichen Schmerzen und Emotionen verbunden ist. Mit möglicherweise unangenehmen körperlichen Ausscheidungen und seltsamen Geräuschen. Eine Geburt hat nichts mit Rosen pflanzen zu tun. Und Kirby stellt das in Pieces of a Woman erstmals in einem Spielfilm derart nahe an der Wahrheit dar, dass es schwer fällt, den Blick nicht zwischendurch abzuwenden.

Sean ist während der Geburt ganz nahe bei Martha

Vor allem dann, wenn sich das kurze Glück in kürzester Zeit in absolute Trauer und Fassungslosigkeit wandelt. Da hat man diese 30 Minuten durchgestanden, wird Zeuge, wie das Kind geboren wird und könnte im nächsten Moment nicht in ein größeres Loch gestoßen werden.
In der Folge macht Pieces of a Woman einen Sprung von etwa einem Monat und schreitet auch danach in Zeitsprüngen voran. Der Ton ändert sich massiv. Von der spannungsvollen Erwartung und der Trauer während der Geburt hin zu Verbitterung, Zynismus und Aggression nach dem Verlust der Tochter. Martha verhärtet äußerlich und wehrt schroff alle Bemühungen anderer ab, die Trost spenden wollen. Sean flüchtet sich in alte Süchte und wird zunehmend aggressiv. Wir werden Zeuge einer zerfallenden Ehe, der (in einer symbolischen Szene mit einem Gymnastikball angedeutet) die Luft ausgeht. Und wir sehen die Anstrengungen, einen Gerichtsprozess gegen die Hebamme zu führen. Einen Prozess, der lediglich als Katalysator für unverarbeitete Emotionen dient. Wir bekommen mit, wie überfordert Menschen in einer solchen Situation sind oder sein können. Eine Situation, die wohl nur diejenigen nachvollziehen können, die solch einen schrecklichen Schicksalsschlag selbst erfahren haben. Und auch wenn der Film das eine oder andere Klischee bemüht (bspw. in der Dynamik zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn), so ist das Schauspiel derart intensiv, dass man kaum anders kann, als mitgerissen zu werden. Auch wenn diese zwei Stunden alles andere als ein leichter Weg sind; alles andere als “unterhaltsames” Kino-Fast-Food.

Bild- und Tonqualität

Suzanne zieht vor Gericht gegen Hebamme Eva

Die Schwere, die der Film inhaltlich mit sich bringt, liegt auch über dem Bild im Format von 1,85:1. Die Totale über den Fluss und die Stadt hinweg ist derart grau und trist, dass man sich als Zuschauer augenblicklich eine Regenjacke anziehen und den Schal umlegen möchte. Der Schleier, der über dem Bild liegt, weicht auch während der Innenraumszenen nur bedingt einer klaren Auflösung. Auch diese Innenraumszenen wirken nicht so klar und kontrastreich wie man das von Hochglanzproduktionen kennt. Als Kamera (zumindest in der ersten halben Stunde) kam eine ARRI ALEXA Mini zum Einsatz – also eine Digitalkamera, die mit 3.4K aufzeichnet. Wie man es von Netflix kennt, sollte auch hier ein 4K-DI vorliegen und kein Upscale von einem 2K DI. Wir haben es also höchstwahrscheinlich mit einem durchgängigen (Fast)-4K-Prozess zu tun, was der Schärfe durchaus sichtbar zugute kommt. Selbst wenn die Kontraste aufgrund der Bildkomposition eher im mittleren Bereich bleiben, sind Close-ups wunderbar detailliert und sehr klar. Für außergewöhnlich helle Spitzlichter ist trotz Dolby-Vision-Mastering allerdings kaum Platz. Dafür ist der Film visuell schlicht zu (gewollt) undynamisch und meist auch zu dunkel. Farben bleiben in den Innenraumszenen durchweg warm gefiltert und haben einen Hang zu Gelb und Braun. Auf dunklen Oberflächen versumpfen Details schon mal ein wenig.
Pieces of a Woman kommt zur Abwechslung mal nicht mit Atmos-Sound. Wozu auch. Schon rein thematisch gibt’s hier keinen Anlass für sonderlich räumliche 3D-Toneffekte, die das Geschehen von oben begleiten. So beschränkt sich das Ganze auf das bekannte Dolby Digital Plus für beide Sprachen. Und die sind durchaus immerhin recht räumlich und sehr authentisch aufgestellt. Schon der Beginn mit der Szene am Fluss lebt durch die zahlreichen Umgebungsgeräusche förmlich auf. Ein hupender Dampfer, die metallenen Rohre, von denen man die Riemen zieht – das klingt wirklich nach Hafen und man fühlt sich mittendrin. Und es ist erstaunlich dynamisch, mit einer hohen Spreizung aus leisen und lauten Signalen. Gleichzeitig sind Stimmen durchweg sehr gut verständlich und klar. Und da Stimmen praktisch 90% des Films dominieren, gibt es auch keine großen Anlässe für akustische Rasanz oder Dynamik. Die 23-minütige Eröffnungssequenz lebt hier vor allem von ihrer Authentizität und dem Gefühl der Anspannung, was vom Ton sehr realistisch dargeboten wird.

Fazit

Pieces of a Woman ist kein Wohlfühlfilm. Ganz und gar nicht. Die ersten 20 Minuten sind sogar schwer zu ertragen. Und das nicht nur für aktuell Schwangere oder solche, die es werden wollen. Aber auch die restlichen 90 Minuten sind kein Spaziergang. Das Gesehene wirkt nach und lässt nicht kalt. Auch, weil die Darsteller hier an ihre Grenzen oder sogar darüber hinaus gehen. Manchmal nimmt sich der Film allerdings etwas zu ernst und fühlt sich etwas an, als suhle er sich in seinem Elend. Manchmal wirkt es übertrieben viel, was auf die Beteiligten an Schwermut und Konflikt hinabgeschüttet wird. Das führt dann schon mal zu “Und-jetzt-das-auch-noch”-Momenten und einem gewissen Augenrollen. Es soll aber die darstellerische Leistung aller Beteiligten nicht schmälern und schmälert auch nur minimal, dass Pieces of a Woman ein starkes Drama geworden ist.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 70%

Tonqualität (dt. Fassung): 75%
Tonqualität (Originalversion): 75%

Film: 80%

Anbieter: Netflix
Land/Jahr: USA 2021
Regie: Kornél Mundruczó
Darsteller: Vanessa Kirby, Shia LaBeouf, Ellen Burstyn, Molly Parker, Sarah Snook, Ellen Burstyn
Tonformate: Dolby Digital Plus: de, en
Bildformat: 1,85:1
Laufzeit: 127
Real 4K: Ja
Datenrate: 15.25 Mbps
Altersfreigabe: 16

(Copyright der Cover und Szenenbilder liegt bei Anbieter Netflix)

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