Blu-ray Review
OT: Platzspitzbaby
Kindheit ohne Kindheit
Pierre Monnards Drama erzählt von einem kleinen Mädchen, das unter seiner drogensüchtigen Mutter leidet.
Inhalt
Zürich, Mitte der 90er. Zehn Jahre war der Platzspitz, bzw. die Platzpromenade ein offener Drogenumschlagplatz im Herzen der Schweizer Stadt. Auch die Mutter von Mia, Sandrine, ist hier fast dauerhaft anzufinden. Dann jedoch lässt man den Platzspitz räumen und die Abhängigen werden vertrieben. Mia und ihre Mutter kommen in einem kleinen Nest im Zürcher Oberland unter. Dort ist Sandrine zunächst clean. Doch die Vergangenheit holt sie in Person alter Bekannter wieder ein – sehr zum Leidwesen von Mia. Das junge Mädchen muss mit ansehen, wie die Mutter wieder an die Nadel gerät und sämtliche Notgroschen für Stoff ausgibt. Bald ist nicht mal mehr etwas fürs Essen übrig. Auch in der Schule läuft es für Mia nicht gut, weil die anderen Mitschüler sie hänseln. Einzig in einer Clique aus dem nahegelegenen Wohnblock fühlt sie sich aufgehoben. Doch Gleichaltrige können nun mal kein Elternhaus ersetzen …
Michelle Halbheer veröffentlichte 2013 den autobiografischen Roman Platzspitzbaby, in dem sie von ihrer Kindheit mit ihrer drogensüchtigen Mutter berichtet. Ein Tatsachenbericht, der seinen Platz direkt neben Wir Kinder vom Bahnhof Zoo findet und ebenso erschüttert. Die emotionale Erpressung, mit der die Mutter ihre eigene kleine Tochter erpresst hat, ist symptomatisch für schwer drogenabhängige Menschen, wird aber umso erschütternder, wenn man bedenkt, dass hier ein Zehnjähriges Mädchen in der Obhut einer Mutter ist, die zur Mitte des Monats kein Geld mehr für Lebensmittel hatte. Halbheer schaffte es aus dieser Situation heraus – auch wenn seinerzeit sämtliche Behörden versagten. Als Erwachsene war sie später im Kinderschutz tätig und betreute Kinder mit süchtigen Eltern. Ein Lebensweg, der umso beeindruckender ist, wenn man die gleichnamige filmische Umsetzung des Romans anschaut (bei Unkenntnis des Buchs). Denn was Mia hier an emotionaler Pein von allen Seiten erleben muss, ist mitunter kaum erträglich. Ständig mit anschauen zu müssen, wie die Mutter abstürzt; sie aufgrund des drohenden kalten Entzugs aggressiv wird und Mia an ihrer Stelle zum Drogenkauf nötigt, ist harter Tobak – bis hin zu dem Moment, in dem Sandrine den kleinen Hund von Mia gegen Stoff eintauscht.
Die Szenen mit ihrer neuen Freundesclique sind die einzigen, die für etwas Entspannung sorgen – auch wenn dort ebenfalls nicht alle heilig sind und selbst mit massiven Problemen in der Familie zu kämpfen haben. So kommt die taffe Lola irgendwann mit einer blutigen Lippe aus dem Haus, weil ihr Vater (mal wieder) gewalttätig wurde. Aber Lola und die anderen nehmen Mia wie sie ist und verurteilen sie nicht. Dort findet der Zuschauer gemeinsam mit der Hauptfigur etwas Rückhalt. Denn aufgrund der konsequenten Schilderung durch die Augen Mias bleibt dem Rezipienten an anderer Stelle kaum eine Möglichkeit, der emotionalen Tour de Force zu entkommen. Die Bindung an das kleine Mädchen und dessen Geschichte ist groß und sorgt immer wieder für einen Kloß im Hals. Die eingestreuten Momente, in denen Mia sich in die Gesellschaft ihres imaginären und Gitarre spielenden Freundes „Buddy“ begibt, sind indes nicht ganz glücklich und passen auch nicht ganz zum Ton des Films. Sie wirken wie ein Fremdkörper, auch wenn man die Idee dahinter durchaus verstehen kann – und zwar als einen emotionalen Rückzugspunkt für Mia. Dennoch: Filmisch und inszenatorisch ist das nicht ganz stimmig.
Platzspitzbaby lebt vom intensiven Schauspiel Luna Mwezis als Mia und Spale-Bühlmann als ihre Mutter. Beiden nimmt man die Darstellung der drogensüchtigen Mutter und der darunter leidenden Tochter zu jeder Zeit ab. Und beide Rollen verlangen durchaus Mut von ihren Darstellerinnen. Sich vor der Kamera so offen, verletzlich, emotional fertig und kaputt zu zeigen, ist eine herausragende Leistung. Ebenfalls zum Gelingen des Films trägt bei, dass man den Look bewusst schmuddelig hielt, das Bildformat etwas enger – und damit intimer – wählte und dort, wo es Sinn macht, mit der Handkamera drehte. Letzteres verleiht der Sache einen halbdokumentarischen Anstrich, der für noch mehr Authentizität sorgt.
Bild- und Tonqualität
Platzspitzbaby liegt im ungewöhnlichen Bildseiten-Format von 1,66:1 vor, was sicherlich auch die Zeit widerspiegeln soll, zu der der Film spielt. Und das ist nicht das einzige Stilmittel. Denn der mit der Sony Venice in 4K gedrehte Film ist alles andere als digital-clean. Die hinzugefügte Körnung ist deutlich sichtbar und vermittelt eine analoge Atmosphäre. Für ein Drogendrama passt dieser schmuddelige Look ganz gut und unterstützt die Geschichte visuell. Helle Bereiche überstrahlen gerne mal und Farben haben ebenfalls einen leichten Einschlag – manchmal ins Grünliche, manchmal ins dezent Gelbliche. Die Kontrastdyamik ist nicht immer Herr über die Lage, da in dunklen Bereichen schon mal Anteile etwas versumpfen, während die hellen Elemente, wie oben erwähnt, schon mal überreißen. Auch in puncto Schärfe muss man Abstriche machen. Meist ist das künstliche Korn etwas im Weg und bei Halbtotalen sieht es ohnehin nicht sehr gut aufgelöst aus. Aber insgesamt spiegelt das recht gut wider, was der Film thematisch aufarbeitet.
Platzspitzbaby bietet seine beiden Tonspuren (Deutsch und Schwyzerdütsch) in DTS-HD-Master an, was grundsätzlich für eine verlustfreie Komprimierung steht. Der Film legt als Drama natürlich vornehmlich seine Konzentration auf die gute Verständlichkeit der Dialoge. Das darf für beide Sprachen als gelungen gelten – wenn man davon ausgeht, dass man Schweizerdeutsch versteht. Die Räumlichkeit ist mitunter erstaunlich gut, was man gerade in den Außenszenen schon mal hören kann, wenn Umgebungsgeräusche sehr weitläufig dargestellt werden. Hin und wieder kommt etwas Dynamik auf, wenn bspw. die Filmmusik mal dominanter im Vordergrund steht (40’50) oder nach etwas über einer Stunde mal wummernder Bass den Ton bestimmt.
Bonusmaterial
Im Bonusmaterial von Platzspitzbaby ist leider nur der Trailer zum Film verborgen. Hier wäre es schon schön gewesen, ein paar Interviews mit Machern, Darstellerinnen und der Autorin der Buchvorlage zu sehen. Dem Thema kann man gar nicht genug Beachtung schenken, weshalb das hier ausdrücklich schade ist.
Fazit
Platzspitzbaby – Meine Mutter, ihre Drogen und ich ist ein bedrückender, bewegender und an die Nieren gehender Film – und das nicht nur für Eltern. Die Geschichte von dem Zehnjährigen Mädchen, dessen Mutter heroinabhängig ist, ist mitnichten weit hergeholt, sondern passiert in dieser oder ähnlicher Form täglich und überall. Man kann sicherlich hoffen, dass Behörden heute (also 25 Jahre später) etwas fitter und übersichtlicher reagieren, um ge(wichtige) Entscheidungen zu treffen. Davon ab lässt sich Platzspitzbaby in einem Atemzug mit Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo nennen.
Visuell lädt die Blu-ray nicht unbedingt zum Schwärmen ein. Muss sie aber auch vielleicht nicht, weil der körnige und schmuddelige Look dem Thema durchaus gerecht wird.
Timo Wolters
Bewertung
Bildqualität: 60%
Tonqualität (dt. Fassung): 65%
Tonqualität (Originalversion): 65%
Bonusmaterial: 5%
Film: 85%
Anbieter: EuroVideo Medien GmbH
Land/Jahr: Schweiz 2020
Regie: Pierre Monnard
Darsteller: Luna Mwezi, Sarah Spale-Bühlmann, Anouk Petri, Delio Malär, Jerry Hoffmann, Thomas Hostettler, Caspar Käser, Lea Whitcher, Esther Gemsch
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, ch
Bildformat: 1,67:1
Laufzeit: 100
Codec: AVC
FSK: 12
(Copyright der Cover und Szenenbilder liegt bei Anbieter EuroVideo Medien GmbH)
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Trailer zu Platzspitzbaby
So testet Blu-ray-rezensionen.net
Die Grundlage für die Bild- und Tonbewertung von Blu-rays und Ultra-HD-Blu-rays bildet sich aus der jahrelangen Expertise im Bereich von Rezensionen zu DVDs, Blu-rays und Ultra-HD-Blu-rays sowie Tests im Bereich der Hardware von Unterhaltungselektronik-Komponenten. Gut zehn Jahre lang beschäftigte ich mich professionell mit den technischen Aspekten von Heimkino-Projektoren, Blu-ray-Playern und TVs als Redakteur für die Magazine HEIMKINO, HIFI TEST TV VIDEO, PLAYER oder BLU-RAY-WELT. Während dieser Zeit partizipierte ich an Lehrgängen zum Thema professioneller Bildkalibrierung mit Color Facts und erlangte ein Zertifikat in ISF-Kalibrierung. Wer mehr über meinen Werdegang lesen möchte, kann dies hier tun —> Klick.
Die technische Expertise ist aber lediglich eine Seite der Medaille. Um stets auf der Basis von aktuellem technischen Wiedergabegerät zu bleiben, wird das Testequipment regelmäßig auf dem aktuellen Stand gehalten – sowohl in puncto Hardware (also der Neuanschaffung von TV-Displays, Playern oder ähnlichem, wenn es der technische Fortschritt verlangt) als auch in puncto Firmware-Updates. Dazu werden die Tests stets im komplett verdunkelbaren, dedizierten Heimkino angefertigt. Den Aufbau des Heimkinos könnt ihr hier nachlesen —> Klick.
Dort findet ihr auch das aktuelle Referenz-Gerät für die Bewertung der Tonqualität, das aus folgenden Geräten besteht:
- Mainspeaker: 2 x Canton Reference 5.2 DC
- Center: Canton Vento 858.2
- Surroundspeaker: 2 x Canton Vento 890.2 DC
- Subwoofer: 2 x Canton Sub 12 R
- Heights: 4 x Canton Plus X.3
- AV-Receiver: Denon AVR-X4500H
- AV-Receiver: Pioneer SC-LX59
- Mini-DSP 2x4HD Boxed
Das Referenz-Equipment fürs Bild findet ihr wiederum hier aufgelistet. Dort steht auch, wie die Bildgeräte auf Norm kalibriert wurden. Denn selbstverständlich finden die Bildbewertungen ausschließlich mit möglichst perfekt kalibriertem Gerät statt, um den Eindruck nicht durch falsche Farbtemperaturen, -intensitäten oder irrigerweise aktivierten Bild“verbesserern“ zu verfälschen.
Gestern Abend gesichtet und ich kann diesen Film nur weiterempfehlen. Was hier Schauspielerisch geboten wird ist total realistisch dargestellt. Einige Szenen sind schwer zu ertragen. Die Szene mit den Rubbellosen ist kaum auszuhalten. Einige denken jetzt was da kommen kann……..in Zusammenhang mit Rubbellosen. Aber ich werde nichts verraten. Wer Interesse an solchen Dramen hat kann hier nichts falsch machen. Falls diese Geschichte auf Wahrheiten beruht kann ich nur hoffen das Mia es geschafft hat aus dieser Hölle mit ihrer wirklich Kranken Mutter heraus zu kommen.
Hat sie, Rüdiger:
https://www.youtube.com/watch?v=9mac2SMYMgs
Und wer des Schweizer-Deutsch mächtig ist:
https://www.youtube.com/watch?v=cXlNzlcWV1M
Danke für den Link. Den Talk bei Markus Lanz werde ich mir auf alle Fälle anschauen.
Nach lesen dieser Rezension sofort gekauft. Der Trailer verspricht einiges. Es gibt tolle Filme die man gar nicht auf dem Schirm hat. Danke an Timo der diesen Film schon gesichtet und als sehr gut bewertet hat. Auf Timos Bewertungen kann ich mich persönlich immer verlassen.
Ich glaube das ist wieder so eine kleine perle den ich mir mal ansehen werde.
Ich denke auch das sich dieser Film auf jeden Fall Lohnt.
Lohnt sich auf jeden Fall.