We are the Flesh Uncut Limited Special Edition

Blu-ray Review

Donau Film/Wicked-Vision, 25.11.2016

OT: Tenemos la carne

 


Die Familie

In We are the Flesh wird nicht nur der Magen des Zuschauers gefordert.

Inhalt

In einer eigens eingerichteten Fabrikhalle haust der obdachlose Mariano von dem, was man ihm durch eine schmale Luke als Essen offeriert. Sein Zeitvertreib ist der Alkohol und eine Trommel, auf der er sich ab und an ins Delirium drischt. Als die zwei offensichtlich auch heimatlosen Geschwister Fauna und Lucio seine Behausung finden, laden sie sich zunächst ganz selbstlos eigens ein, werden dann aber von dem Mann festgesetzt und gegen Kost und Logie zur Arbeit verdonnert. Nach und nach verwandeln die Drei den Ort in einen gigantischen Uterus, dem Mariano vor knapp 50 Jahren ab liebsten gar nicht entkommen wäre. Nun fühlt er sich endlich wieder wohl, nutzt seine neue Zufriedenheit und Macht aber auch dazu, von seinen „Gästen“ zu verlangen, dass sie es miteinander treiben. Während des Vollzugs seines Wunsches masturbiert sich Mariano dann in den Tod. Doch ist das nicht sein Ende – und auch für Fauna und Lucio ist der Weg noch nicht vorbei …

Extrem – das ist mit Sicherheit das Eigenschaftswort, das We are the Flesh am besten beschreibt. Die Tatsache, dass Magazine wie Der Spiegel sich zu einem „… wie ein pornografischer Fiebertraum David Cronenbergs …“ hinreißen ließen, darf in Zeiten von Genre-Kollegen wie Human Centipede oder Serbian Film fast als eine Art Kompliment gelten, denn damit rückt man Emiliano Rocha Minters Debutwerk in die Nähe von Zelluloidkunstwerken. Wie viel Kunst aber in einem Film steckt, der spätestens nach 25 Minuten mit den unterschiedlichsten Körperflüssigkeiten hausieren geht, das sollte jeder individuell für sich bewerten. Einen starken Magen, so viel ist sicher, braucht jeder, der sich We are the Flesh zu Gemüte zu führen gedenkt. Schon Hauptdarsteller Noé Hernández (Tage der Freiheit – Schlacht um Mexiko) ist als Penner Mariano kein sonderlich attraktiver Anblick. Die Tatsache, dass alle drei Figuren stets schmuddelig und verdreckt oder gar blutverkrustet sind, lässt auch die expliziten Sexszenen kaum ansprechend wirken – und das selbst ohne den Hintergedanken, dass es sich hier storytechnisch um Inzest handelt. Wenn die Kamera dann vom 1,85:1-Format auf ein 4:3 mit stilisierten Infrarot-Look blendet, versucht Rocha Minter auch auf diese Weise, sich von experimentellen Filmen abzusetzen. Der Sinn dahinter verschließt sich allerdings meist.

Auch muss man schon sehr aufgeschlossen sein, warum gerade das Trinken von Menstruationsblut ein Nachweis dafür sein soll, dass es Liebe nicht gibt. Natürlich ist We are the Flesh voll von psychologischen Gedankenspielen, erzählt ebenso vom Elektrakomplex (Fauna scheint die Vaterfigur Mariano zu begehren) wie es das Thema Inzest zum zentralen Bestandteil des Films werden lässt. Und weil unser mexikanischer Regisseur andere tabubrechende Film gut studiert hat, gibt’s noch gleich Nekrophilie und (lesbische) Vergewaltigung obendrauf. Stattfinden lässt er das Geschehen in einer dem Uterus nachempfundenen Pappmaché-Konstruktion, die er mal orangenes, mal in bläuliches Licht taucht. Das helle Licht am Ende des Tunnels symbolisiert (na klar) die Öffnung der Vagina und stellt den ganzen Film über die Stelle dar, von der die Gefahr ausgeht. Die Protagonisten möchten nicht raus aus diesem Mutterleib, in dem sie sich wohl fühlen und ihren Fantasien (wie abstrus, bizarr oder gwalttätig auch immer diese sein mögen) freien Lauf lassen können. Ekstase und Wahnsinn sind zentrale Elemente von We are the Flesh, der an dümmlichen Dialogen krankt und dessen Bilder weit mehr erzeugen als es das gesprochene Wort tut. Der psychologische Entwurf, dass man in der entrückten Welt – eben jener, in der man vom Mutterleib getrennt wird und autonom zu existieren beginnt – keine Heimat findet und deshalb eine Wiedervereinung mit dem Uterus anstrebt wird von We are the Flesh ziemlich plakativ vorgetragen. Allerdings kann man dem Film eine gewisse Wirkung nicht absprechen, wenn zum Ende hin einer der Teilnehmer der finalen Orgie aus der Höhle heraus in eine andere Höhle tritt. Eben jenen Moloch einer mexikanischen Großstadt, in der man sich wohl wirklich schwer tun würde, Heimatgefühle und Geborgenheit zu entwickeln. Vielleicht ist We are the Flesh damit eine viel aktuellere Zustandsbeschreibung Mexikos als man sich denken würde – wenngleich auch radikaler Art.

Bild- und Tonqualität

We are the Flesh hat ein richtig gutes Bild. Gut, wenn man das Wort definiert als: „so wie es sich der Regisseur vorgestellt hat“. Objektiv gesehen ist es fast totgefiltert, um Farben über die meiste Zeit vollkommen zu verfremden oder möglichst schmutzig aussehen zu lassen. Am häufigsten sind Gelbfilter zu erkennen, die das Ganze kränklich wirken lassen. Die teils eingestreuten Blau-Grau-Szenen wirken hingegen (bewusst) kühl. Die Schärfe ist während der Naheinstellungen in Ordnung, in Halbtotalen aber eher mittelmäßig. Der Kontrastumfang variiert (je nach genutzter Farbfilterung) sehr stark, präsentiert aber zu keiner Zeit tiefes Schwarz oder prägnante Spitzlichter. Ein geringes Korn lässt das Geschehen filmisch erscheinen und stört nur in Ausnahmenfällen.
Akustisch bleibt We are the Flesh über weite Strecken frontlastig, nutzt die Effektspeaker aber ausgiebt, wenn seine Figuren lautstark ihren Fantasien oder Wahnvorstellungen „nachgehen“. Auch die Filmmusik bewegt sich offen durch den Raum, die akustische Atmosphäre der urbanen Umgebung einer mexikanischen Stadt im Finale funktioniert ebenfalls authentisch. Dialoge sind gut verständlich und die Synchro ist überraschend gut gelungen.

Bonusmaterial

Im Bonusmaterial von We are the Flesh gibt es neben den Trailern noch Interviews mit dem Regisseur sowie seinen drei Hauptakteuren. Schade, dass der junge Darsteller des Lucio wirkt, als wäre er vollkommen zugedröhnt. Auch schade, dass sich der Gesprächsführer nicht traut, die interessante Frage danach zu stellen, wie die Drei mit den expliziten Sexszenen umgegangen sind. Obendrauf gibt es noch die beiden Kurzfilm „Dentro“ und „Videohome“, die der erst 26-jährige Minter vor seinem Langfilmdebut verwirklicht hatte.

Fazit

Wer Grenzen erfahren oder ausloten will oder wer sein psychologisches Repertoire erweitern möchte, dem sei We are the Flesh empfohlen. Allen anderen sei gesagt, dass es vollkommen okay ist, wenn man nach Inhaltsangabe und -kritik beschließt, dass man sich das nicht antun möchte.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 50%
Tonqualität (dt. Fassung): 60%
Tonqualität (Originalversion): 60%
Bonusmaterial: 40%
Film: 60%

Anbieter: Donau Film/Wicked-Vision
Land/Jahr: Mexiko/Frankreich 2016
Regie: Emiliano Rocha Minter
Darsteller: Noé Hernández, María Evoli, Diego Gamaliel, María Cid, Gabino Rodriguez
Tonformate: dts HD-Master 5.1: de, en
Bildformat: 1,85:1
Laufzeit: 81
Codec: AVC
FSK: 18 (uncut)

Trailer zu We are the Flesh

We are the Flesh (DeutscherTrailer)

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