Wo die Erde bebt – Netflix

Blu-ray Review

Netflix, 15.11.2019

OT: Earthquake Bird

 


Der Tod folgt ihr

Atmosphärischer und hochkarätig besetzter Psycho-Thriller – exklusiv bei Netflix.

Inhalt

Tokyo 1989: Die junge Lucy ist fünf Jahre zuvor aus Schweden nach Japan ausgewandert, um dort als Übersetzerin zu arbeiten. Sie respektiert die japanischen Gewohnheiten, passt sich an, lernt die Sprache und beginnt langsam, in der Bevölkerung unauffällig zu verschwinden. Doch dann muss sie unwillkürlich an die Oberfläche, denn die Polizei lädt sie vor. Im Zusammenhang mit gefunden Leichenteilen einer Frau, die möglicherweise zu der seit einiger Zeit vermissten US-Amerikanerin Lily gehören könnten, möchte man Lucy anhören. Denn wie die Behörden rausgefunden haben, kannten sich die beiden Frauen. Lucy erinnert sich an die ersten Begegnungen mit Lily und erzählt von ihrer mehr und mehr obsessiven Beziehung zu einem jungen Japaner. Nach und nach kommt ans Tageslicht, dass sich ein Beziehungsdreieck mit Eifersüchteleien entwickelte. Und je mehr Lucy preisgibt, desto dunkler scheinen die Flecken auf ihrer ach so weißen Weste zu werden …

Earthquake Bird, so der Originaltitel von Wo die Erde bebt, basiert auf dem gleichnamigen Debüt-Roman der Britin Susanna Jones, für den sie gleich drei Nachwuchspreise im Jahre 2001 einheimsen konnte. Ihre Story, die sich weniger um die Auflösung des Whodunit kümmert als vielmehr eine Erkundungsfahrt in das trügerische Wesen von Wahrheit und Erinnerung darstellt, stand schon länger auf der Liste der noch zu verfilmenden Vorlagen.
Im Sommer 2016 wurde dann erstmals der Brite Wash Westmoreland mit dem Stoff in Verbindung gebracht – und er konnte sich prominente Namen für die Realisierung sichern. Denn wer beim Vorspann aufpasst, wird das Label Scott Free Productions entdecken. Ridley Scott fungierte als ausführender Produzent und sorgte dafür, dass das Budget nicht allzu knapp ausfiel. Interessanterweise sollte der Film übrigens zunächst in Kooperation mit Amazon Studios realisiert werden, bevor es dann doch der direkte Konkurrent von Netflix wurde, über den am 15. November die Veröffentlichung per Stream folgt.
Allerdings nicht, ohne zuvor im Oktober auf dem BFI London Film Festival Premiere gefeiert und einen limitierten Kinoauftritt erlangt zu haben.

Für den November stellt Wo die Erde bebt neben Martin Scorseses The Irishman den vielversprechendsten Netflix-exklusiven Film dar – und das nicht ganz zu Unrecht. Schon Regisseur Westmoreland lässt Großes erwarten und erhoffen – immerhin hatte er mit Colette und vor allem mit Still Alice (Hauptrollen-Oscar für Juliette Lewis) zuletzt große Dramen inszeniert.
Allerdings musste er für Wo die Erde bebt auf seinen langjährigen und kürzlich verstorbenen Drehbuchschreiber Richard Glatzer verzichten und die Adaption des Jones-Romans selbst in die Hand nehmen.
Inszenatorisch arbeitet er sich dabei von hinten nach vorne vor und erzählt seine Story – ebenso wie im Buch – durch die Augen Lucys.
Alles beginnt damit, dass Leichenteile einer Frau gefunden werden, die wohl mit der vermissten Lily in Verbindung gebracht werden können. Lucy wird aufs Polizeipräsidium geladen und erzählt die Story dann aus ihrer Sicht rückwirkend. Der Zuschauer geht mit dieser Struktur mit und wird glücklicherweise auch nicht vor verwirrende Zeitsprünge gestellt.
Komplett in Japan gefilmt (Drehorte waren Tokyo und Sado Island) kann sich Westmoreland dabei auf die erlesenen Bilder seines Kameramanns Chung Chung-Hoon (Oldboy) verlassen. Gleichzeitig entwickelt er ein zwar gemächliches Tempo, aber genau deshalb entfaltet sich eine sehr faszinierende Atmosphäre.
Oft nähert sie sich dem Neo-Noir-Thriller an und weckt nicht selten Erinnerungen an einen anderen Hollywood-Film, der in Japan spielte: Black Rain. Dass man Ausschnitte aus genau diesem Thriller mit Michael Douglas sieht und dessen Regisseur hier als Produzent fungiert, ist sicherlich kein unbeabsichtigter Zufall.

Wie im Buch auch vermittelt der Film eindrucksvoll, dass Lucy nicht einfach eine Auswanderin ist. Sie fühlt sich als Japanerin, beherrscht die Sprache und Gepflogenheiten und passt sich aus Überzeugung dem Lebenswandel an. Sähe sie nicht europäisch aus, würde man sie glatt als Asiatin durchgehen lassen. Das komplette Gegenteil ist Lily, die erst vor Kurzem nach Japan kam und deren Verhalten sich kolossal von Lucys zurückhaltender Art unterscheidet. Zwischen den beiden Frauen steht der mysteriöse Teiji. Der Hobbyfotograf, der so gerne die Spiegelungen von Umrissen in den Pfützen Tokyos fotografiert und ansonsten in einem Restaurant arbeitet, scheint selbst ein dunkles Geheimnis mit sich herum zu tragen.
Und während Wo die Erde bebt seine Geschichte durch die Erzählungen von Lucy übermittelt, scheinen immer stärker Realität und Fiktion, Vorstellung und Erinnerung zu verwischen. Hat Lucy alles so erlebt, wie sie es den Polizisten schildert? Oder baut sie die vermeintliche Realität erst in diesem Moment des Verhörs zusammen?
Der Zuschauer darf hier einerseits miträtseln und sich andererseits auf eine oft fesselnde Reise in die Obsessionen mitnehmen lassen.
Eine Reise, die vor allem von Alicia Vikander eindrucksvoll gespielt wird – zumal sie weite Strecken ihrer Dialoge in japanisch halten musste, um dem Wesen ihrer Filmfigur noch näher zu kommen.
Schauspieler, Schauplätze, visuelle Gestaltung und Atmosphäre sind stimmiger als in den meisten der versammelten Netflix-exklusiven Filme der letzten Monate. Da kann man dann auch ein bisschen drüber hinwegschauen, dass die Auflösung am Ende nicht jeden befriedigen wird.

Bild- und Tonqualität

Verwundert reibt man sich die Augen, wenn die erste Szene von Wo die Erde bebt anschaut. Da begegnen sich zwei S-/U-Bahnen in langsamem Tempo, während auf einer weiter unter gelegenen Ebene noch eine Dritte zu kreuzen beginnt. Das Alles in einer Bildruhe, die praktisch sofort zur TV-Fernbedienung greifen lässt: Hat man den Netflix-Modus auf „ein“? Oder doch einen anderen Bildmodus, der mit einer Zwischenbildberechnung flüssigere Bewegungen interpoliert?
Nein, alles ist auf dem Soll. Der Netflix-Modus bestätigt seine Aktivierung und auch beim Wechsel in einen kalibrierten und von Bildverschlimmbesserern befreiten Modus bleibt die Szene gleichermaßen ruhig. Fast zu klinisch und videohaft wirkt diese Sequenz – und das, obwohl auch hier mit 24p und nicht mit erhöhter Bildrate gefilmt wurde. Großartig ist auch die Detailtiefe in dieser Szene, die bis in den hinterletzten Winkel noch die Einzelheiten der Stromleitungen preisgibt. Das wiederum ist kein großes Wunder, denn zum Einsatz kam die ARRI Alexa 65, die bis zu 6.5K aufzeichnet und die Basis für den in nativem 4K abgelegten Stream liefert. Wie üblich läuft dieser bei Netflix mit 15.25 Mbps, was leider immer noch zu wenig ist, um gewisse Kompressionsprobleme auszuschließen. Allerdings hat man hier sehr sauber gearbeitet. Es ist nicht nur die Auflösung, die beeindruckt und jede Faser des Sicherheitsgurtes darstellt (3’47), sondern auch die Farbauflösung. Sie hält gleichförmige Textur-Oberflächen wie graue Wänden in dunkler Umgebung frei von unschönem Banding. Nur die ganz dezenten stehenden Rauschmuster auf Kleidung oder in Gesichtern fallen auf, wenn man nahe an den TV geht und auf ganz leichte Bewegungen wartet. Außerdem überstrahlen helle Oberflächen auf Gesichtern ein ganz klein wenig und hin und wieder zeigen sich auch ganz leichte Farbsäume an neutralen Hauträndern bei Halbtotalen, während Gesichter selbst vielleicht etwas weniger soft hätten sein dürfen. Die integrierte dynamische Kontrastdynamik Dolby Vision sorgt ansonsten für sehr gut durchzeichnete Kontraste und – im Rahmen der stilistisch etwas reduzierten Farben – auch für eine gute Differenzierung. Schwarz hätte allerdings noch etwas satter sein dürfen.

Wie bei den großen Netflix-Titel zuletzt meist üblich, kommt auch Wo die Erde bebt mit einer deutschen Dolby-Digital-Plus-Spur, während die englische Option mit Dolby Atmos kodiert ist. Kümmern wir uns zunächst um die Synchronfassung, so hört diese sich durchaus ansprechend an, klingt in den Dialogen aber etwas zu dünn und wenig voluminös. Sehr gut funktionieren die satten Bässe während der Erdbeben oder auch in der längeren Diskoszene nach gut 55 Minuten. Hier pumpt der LFE-Kanal ordentlich trockene Beats ins Heimkino.
Allerdings kann der englische Ton das schon mit seinem DD+-Kern auf der regulären Ebene besser. Das Klicken des Auslösers von Teijis Kamera ist direkter und etwas lauter. Das Rumpeln des Erdbebens kommt mit noch mehr Nachdruck und auch die vorhandenen Surround-Effekte klingen ein wenig dynamischer. So ist die dt. Fassung zwar nicht schlecht, aber eben nicht so gut wie die Originalspur.
Bei der kommt neben der regulären Ebene natürlich noch die 3D-Soundebene hinzu, die sich erstmals nach 1’40 nach oben öffnet, während Lucy aus der U-Bahn steigt. Kurz darauf hört man die Stimme ihrer Kollegin gedämpft aus den Heights, weil Lucy sie nur durch ihre abschirmenden Kopfhörer wahrnimmt. Richtig fett und heftig wird es, wenn nach etwas über 13 Minuten das erste Erdbeben aus der vorher so ruhigen Szenerie reißt. Schon über die reguläre Ebene beeindruckend, liefern die Heights hier zusätzliches Quietschen, Rumpeln und Knarzen von oben. Ab und an gesellt sich außerdem der Score hinzu, wenn sich die Spannung etwas intensiviert und Szenen-Übergänge im Anmarsch sind. Nach gut 39 Minuten gibt es wieder so eine Szene, in der ein bedrohlicher Score über die vier Heights hinwegwandert, nachdem man kurz zuvor schon eine S-Bahn hat dort rauschen hören. Bei 50’14 gibt’s dann das nächste Beben, das ähnlich effektvoll in Szene gesetzt wird und bei 61’15 rattert noch mal eine Hochbahn vorbei. Möwen hört man bei 75’48 und fünf Minuten später rauscht der Regen von der Decke. Das ist zusammen genommen nicht wirklich viel, aber es macht an den entsprechenden Stellen Sinn und ergänzt die Akustik sehr schön.

Fazit

Wo die Erde bebt lebt von seiner intensiven Atmosphäre und den stimmungsvoll eingefangenen Bildern der Kamera. Alicia Vikander schafft es zudem, durch ihr zunächst zurückgenommenes und später extrovertierteres Spiel, den Wandel von Krimi in Psychothriller glaubwürdig zu bewerkstelligen. Man sollte allerdings weder einen rasanten Actioner noch eine sonderlich überraschende Auflösung erwarten. Letzteres will der Film nicht anbieten, denn für Westmoreland geht es wie bei der Romanvorlage auch um den Weg, der zum Ziel führt, nicht das Ziel selbst.
Das Bild liegt im qualitativ oberen Bereich der 4K-Streams von Netflix, dem deutschen Sound fehlt’s aber an Volumen in den Stimmen und Dynamik während der lauteren Szenen.
Timo Wolters


Bewertung

Bildqualität: 85%
Tonqualität (dt. Fassung): 70%

Tonqualität UHD 2D-Soundebene (Originalversion): 80%
Tonqualität UHD 3D-Soundebene Quantität (Originalversion): 40%
Tonqualität UHD 3D-Soundebene Qualität (Originalversion): 80%

Film: 75%

Anbieter: Netflix
Land/Jahr: USA 2019
Regie: Wash Westmoreland
Darsteller: Alicia Vikander, Riley Keough, Kiki Sukezane, Jack Huston, Naoki Kobayashi
Tonformate: Dolby Atmos (DD+-Kern): en // Dolby Digital Plus: de
Bildformat: 2,35:1
Laufzeit: 106
Real 4K: Ja
Datenrate: 15.25 Mbps
FSK: 12

(Copyright der Cover und Szenenbilder liegt bei Anbieter Netflix)

Trailer zu Wo die Erde bebt

Earthquake Bird | Official Trailer | Netflix

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